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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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nie getraut, Lucky zu fragen, ob er meinen Namen an erster Stelle auf der Liste für den Wunschpartner eintragen würde.
    Oder an überhaupt irgendeine Stelle. Kein einziges Mal hatten wir über so etwas gesprochen, und als Moon mir vor einem halben Jahr erzählt hatte, sie hätte einen Freund zugewiesen bekommen, hatte ich sie lachend umarmt und nichts Böses ahnend gefragt: »Na, wer ist denn der Glückliche?«
    Moons Gesicht verfärbte sich und sie wisperte mir ins Ohr: »Lucky.«
    »Oh«, sagte ich. Auf der Suche nach einer lustigen Antwort meinte ich lahm: »Wetten, ich bekomme Jupiter?«
    Sie lachte. »Jupiter? Den nehmen sie aus dem Programm, so, wie der aussieht.«
    Natürlich hatte unser Klassenkleinster Wachstumshormone bekommen, aber viel größer war er trotzdem nicht geworden, und allen Diätvorschriften zum Trotz war er auch noch schwerer als erlaubt. »Ich habe eine Stoffwechselanomalie«, bekannte er freimütig, und deshalb dachten wir, er würde keine Freundin zugeteilt bekommen. Leute mit Anomalien sollten sich der Gesellschaft zuliebe besser nicht fortpflanzen.
    Doch die Gesundheitsbehörde hatte wohl nichts Auffälliges in Jupiters DNS gefunden, denn er ging mittlerweile mit einem Mädchen aus der Neunten, zwei Stufen unter uns. Ich dagegen hatte immer noch keinen Partner.
    »Peas?«
    Ich schrak zusammen, als Gandhi sich unvermittelt an mich wandte. »Äh, ja?«
    »Erkläre doch bitte, was wir aus dieser Szene gelernt haben.«
    Ich riss meine Gedanken von der unerklärlichen Tatsache los, dass ich keinen Freund hatte, und bemühte mich, die Frage zu beantworten. Meine Noten waren in diesem Schuljahr nicht besonders gut. Die meiste Zeit fühlte ich mich schläfrig, und es war bestimmt ein halbes Jahr her, dass ich mich lange genug konzentriert hatte, um eine Klassenarbeit zu Ende zu schreiben. Daher bemühte ich mich, ihm eine befriedigende Antwort zu geben.
    »Ähm – es geht um die Gefahr, die Leidenschaft für die Gesellschaft darstellt. Liebe kann leicht tragisch enden, wenn man alles so ernst nimmt und wenn man«, ich suchte in meinem umnebelten Hirn nach Worten, »wenn man glaubt, dass man ohne den anderen nicht leben kann.«
    »Oh Julia!«, rief Jupiter theatralisch dazwischen. »Stirb nicht!«
    »Deshalb«, fuhr ich fort, weil Gandhi mir freundlich zunickte, »führt der Weg der Leidenschaft unweigerlich in die Katastrophe. Aus Leidenschaft wurden Menschen umgebracht und Kriege begonnen. So etwas darf es nie wieder geben.«
    »Gut gesprochen.« Unser Geschichtslehrer nickte zufrieden. »Genau aus diesem Grund ist Romeo und Julia Pflichtlektüre für alle elften Klassen. Um uns die Absurdität übertriebener Gefühle vor Augen zu halten. Leidenschaft ist der Beginn des Untergangs. Wilde Gefühle haben die Menschheit an den Abgrund geführt, und nur wenn wir es schaffen, uns davon zu befreien, werden wir die nächste Stufe der Evolution erreichen: den Menschen, der keine Aggression gegen seinesgleichen mehr kennt. Der Mensch, der den Verirrungen der Vergangenheit endgültig entwachsen ist und sich mündig und verantwortungsbewusst verhält.« Gandhi lächelte uns an. »Die Hausaufgabe ist klar: Schreibt einen Aufsatz über das Leid, das Leidenschaft der Menschheit gebracht hat. Titel: Wilde Gefühle und ihre Gefahren. Morgen sehen wir uns wieder.«
    Gandhi verfügte über die unnachahmliche Fähigkeit, seine Sätze so zu beenden, dass das letzte Wort exakt mit der Pausenklingel zusammenfiel.
    Wir sprangen von den Stühlen. Lucky und Merkur ließen die Jalousien hochfahren und das Tageslicht wieder hereinströmen. Moon tänzelte auf mich zu und hakte sich bei mir unter. »Na, wie war ich? Hat man gesehen, dass die Träne aus Kunststoff war?«
    »Keine Spur«, sagte ich. »Es wirkte total echt.«
    »Du bekommst bestimmt auch mal eine Rolle, Pi«, meinte Moon, die sofort merkte, dass ich ein wenig niedergeschlagen war. »Du kannst das auch, das weiß ich.«
    »Kann ich nicht«, widersprach ich ihr. »Ich würde mich nur lächerlich machen.«
    Moon lachte. »Ach was. Na komm, Pi, gehen wir was essen.«
    »Leute!«, rief Merkur vom Fenster her. »Das müsst ihr euch ansehen. Eine echte Taube!«
    Peace und Charity kreischten. »Igitt! Scheuch sie weg!«
    »Jemand müsste das Ungezieferspray holen«, sagte Lucky.
    Zuerst wollte ich die Flucht ergreifen, aber dann zog es mich doch zum Fenster, denn ich war einfach zu neugierig. Das letzte Mal, dass ich einen Vogel gesehen hatte, war bestimmt schon
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