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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Vorwort
    E s kann Staunen erregen, welch eine üppige Vielfalt an Deutungen die schlichte Tatsache provoziert hat, dass der Mensch aufrecht geht. Seit der Antike hat man in dieser Tatsache sein Alleinstellungsmerkmal unter den Tieren sehen wollen: eine Besonderheit, die ihn unter den Vierfüßern buchstäblich ‹hervorhebt›. Zu einem Sprungbrett vielfältiger anthropologischer Selbstdeutungen konnte der aufrechte Gang nicht zuletzt deshalb werden, weil er auf zwei verschiedene Weisen aufgefasst werden kann: Zum einen als ein handfestes körperliches Merkmal, das anatomisch, mechanisch oder verhaltensbiologisch zu beschreiben und in seinen Konsequenzen zu analysieren ist; und zum anderen als ein Symbol für die besondere Stellung des Menschen in der Welt oder für seine besondere Beziehung zu Gott. In dieser symbolischen Deutung gewinnt der aufrechte Gang eine normative Funktion, die sich auf kreative Weise mit den jeweils dominanten moralischen, religiösen und kulturellen Werten verknüpfen lässt. Schon die in vielen Sprachen bestehende enge semantische Beziehung zwischen dem räumlichen Ausdruck ‹aufrecht› und dem normativen Begriffsfeld von ‹recht›, ‹richtig› oder ‹aufrichtig›, deutet darauf hin.
    Umso merkwürdiger ist es, dass eine Gesamtdarstellung dieser Deutungsvielfalt und ihrer historischen Entwicklung bisher noch nicht versucht wurde. Dies mag damit zusammenhängen, dass der aufrechte Gang zwar stets ein Thema des anthropologischen Denkens war, aber nur selten in seinem Mittelpunkt stand. Dominiert wurde es in nahezu allen Phasen seiner Geschichte von dem Kontrast zwischen Leib und Seele bzw. Körper und Geist. Die folgenden Kapitel werden aber zeigen, dass sich die Geschichte des anthropologischen Denkens zu erheblichen Teilen auch am Leitfaden des Themas ‹aufrechter Gang› nachzeichnen lässt. Denn dieses Merkmal wurde oft als eine Gelenkstelle genommen, an der unterschiedliche, scheinbar weit auseinanderliegende Eigenschaften des Menschen miteinander verknüpft sind: sein Äußeres und sein Inneres, sein Körper und sein Geist, seine Natur und seine Kultur. Vor allem bot es sich als Brücke zwischen Anthropologie und Ethik an.
    Das hier vorliegende Buch soll erstens die verschiedenen Deutungen darstellen, die der aufrechte Gang über die Jahrhunderte hinweg gefunden hat; es soll zweitens diese Deutungen in den Kontext des allgemeinen, jeweils epochal dominanten menschlichen Selbstverständnisses stellen; und es soll drittens die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens sichtbar machen. Dabei wird ‹anthropologisches Denken› in einem weiten Sinne verstanden. Obwohl das Schwergewicht der nachfolgenden Darstellung auf der philosophischen Anthropologie liegt, schließt sie zum einen theologische und naturwissenschaftliche Selbstdeutungen des Menschen ein und berücksichtigt zum anderen auch mythologische und literarische Quellen. Alle diese Arten des Denkens werden als prinzipiell gleichberechtigt und gleichwertig behandelt. Es geht um die Frage, wie über den Menschen und seine Gangart gedacht wurde und wird; nicht von wem (einem Philosophen oder einem Dichter) oder wo (in einem Kloster oder in einem Labor) darüber gedacht wurde. Ein solcher nicht-exklusiver Zugang lässt gut erkennen, dass die grundlegenden Deutungsansätze und -perspektiven bezüglich des aufrechten Gangs (und des Menschen überhaupt) nicht auf bestimmte Disziplinen oder Textsorten beschränkt sind; dass Philosophie, Theologie, Naturwissenschaft und Dichtung über diese Ansätze und Perspektiven subkutan miteinander verknüpft sind; und dass aus diesen Verknüpfungen unterschiedliche Gesamtkonstellationen anthropologischen Denkens erwachsen.
    Die ersten drei Teile dieses Buches stellen die Hauptlinien der Deutung des aufrechten Gangs von der Antike bis zur Gegenwart dar und konzentrieren sich dabei auf die jeweils zugrunde liegenden Ansichten über die Stellung des Menschen in der Welt bzw. zu Gott. Der vierte Teil ist demgegenüber sozial- oder kulturanthropologisch ausgerichtet. Er geht den zahlreichen Ansätzen nach, die der spezifischen Körperhaltung des Menschen eine kausale Rolle bei der Entstehung und Gestaltung seines sozialen und kulturellen Lebens zuschreiben. Die Darstellung dieses Teils folgt nicht mehr (wie die ersten drei Teile) durchgängig der chronologischen Ordnung.
    Dieses Buch hätte ohne die Hilfe zahlreicher Kolleginnen und Kollegen nicht geschrieben werden können; ihnen bin
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