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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Erkenntnis seiner selbst erwacht ist. Die Sphinx kann diese Erkenntnis nicht überleben; sie geht zugrunde, sobald der Mensch aufhört, sich selbst ein Rätsel zu sein. Die Macht, die der Mythos über ihn hatte, bricht, wenn und indem der Mensch sich selbst erkennt.
    Die Ödipussage ist demnach ein Mythos, der von der Überwindung des Mythos erzählt. Da die Macht des Mythos (nach Hegel jedenfalls) durch Selbsterkenntnis gebrochen wird, zeugt der Mythos selbst bereits von einer solchen Selbsterkenntnis. Lange vor aller Philosophie und diese vorbereitend, bildet der Mythos eine frühe Stufe des Denkens, in dem der Mensch seiner selbst gewahr wird. Aber dieser Durchbruch zur Selbsterkenntnis bleibt noch mythischer Natur. Das wird schon an der narrativen Form kenntlich, in der er sich präsentiert. Wir hören eine Geschichte, in der Personen agieren und in der selbst noch die zu überwindenden Mächte in leibhaftiger Gestalt auftreten. Vor allem aber zeigt die Ödipussage, wie rückhaltlos die menschliche Selbsterkenntnis hier noch auf die körperlichen Merkmale vertraut. Genauer: auf die Zahl der Füße und die davon abhängende körperliche Gestalt und Fortbewegungsweise des Menschen. Gerade darin erweist sich die hier praktizierte Denkform als vorphilosophisch: Sie konzentriert sich auf die äußere Erscheinung und schenkt dem Inneren keine Beachtung. Die Sphinx hatte in ihrem Rätsel ja auch die «Stimme» des gesuchten Wesens erwähnt. Diese ist leicht als die Sprache identifizierbar; als jenes Merkmal also, das im Anschluss an Aristoteles als eine Schlüsseleigenschaft des Menschen und damit auch als ein heißer Kandidat für sein definierendes Merkmal angesehen wurde. In Ödipus’ Lösung taucht die Stimme nicht mehr auf; sie wird übergangen. Als relevant gilt nur die wechselnde Zahl der Füße.
    Genau diese Rangordnung kehrt die Philosophie um! Wenn es zutrifft, «daß die Seele der Mensch ist», dann stellt sich das Vertrauen auf äußere Merkmale als Charakteristikum einer naiven Stufe des Denkens dar. Der Zahl der Füße kann nun keine zentrale Bedeutung mehr für die Selbsterkenntnis des Menschen zukommen.

2. Hier ist Platons Mensch!
Mensch: Lebewesen, ohne Flügel, zweifüßig, mit breiten Nägeln, das als einziges unter allen, die es gibt, des vernunftgeleiteten Wissens teilhaftig ist.
Pseudo-Platon
    Umso überraschter sind wir, wenn wir im corpus Platonicum auf eine zweite Definition des Menschen stoßen, in der die Zahl der Füße ein Comeback feiert. In dem späten Dialog Politikos geht es um ein Problem, das von jeglichem anthropologischen Interesse weitab zu liegen scheint: um den Staatsmann und seine Tätigkeit. Die Suche nach einer Antwort erweist sich als überraschend umständlich. Die Gesprächsteilnehmer wenden ein dihäretisches Definitionsverfahren an, das in der platonischen Akademie ausgearbeitet und vielfältig angewandt wurde. Es besteht in der schrittweisen Aufgliederung einer Gattung in die von ihr umfassten Arten, bis der zu definierende Gegenstand erreicht ist. Da es im hier vorliegenden Fall um die Tätigkeit des Staatsmanns geht, befasst sich der Dialog zunächst mit dem Oberbegriff, unter den sie fällt. Es handelt sich dabei, so kommen die Teilnehmer überein, um eine bestimmte Art der «anordnenden Kunst»; eine bestimmte Art des Befehlens also. Dies ist aber nur ein Zwischenergebnis, denn es gibt mehrere Varianten anordnender Kunst, von denen die des Staatsmannes nur eine darstellt. Als ein geeignetes Kriterium für die Unterteilung der anordnenden Kunst einigen sich die Gesprächspartner auf deren jeweilige Adressaten. Zu fragen ist also, wem der Staatsmann befiehlt. Die erste Unterscheidung, die nun eingeführt wird, ist die zwischen unbelebten und belebten Objekten, wobei klar ist, dass der Staatsmann es mit den zweiten zu tun hat. Die Lebewesen, an die sich die Befehle des Staatsmannes richten, werden dann in einer peniblen Sequenz von Unterscheidungen immer weiter differenziert, bis schließlich als Ergebnis festgehalten wird: Der Staatsmann befiehlt einer Herde von zweibeinigen, sich nur innerhalb ihrer Art fortpflanzenden, ungehörnten, zu Fuß gehenden, auf dem Lande lebenden, zahmen Tieren. ( Pol. 264b-266b) – In unserem Zusammenhang kann offenbleiben, ob das eine erhellende Definition des Staatsmannes und seiner Tätigkeit ist. Was uns interessiert ist vielmehr, dass hier eine Definition des Menschen gegeben wird. Denn der Staatsmann befiehlt natürlich Menschen!
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