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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Definitionstypus parodierend» (2006: 511) gemeint gewesen sei.
    In Platons Nachruhm mischen sich offenbar zwei Stimmen. Nach der einen ist seine Definition des Menschen einfach nur schlecht, wenn nicht absurd. Darin pflichtet ihr die zweite Stimme bei, glaubt aber den großen Platon vor der drohenden Blamage mit der These schützen zu müssen, er habe sie nur zur Übung oder zum Spaß aufgestellt. Der Text des Politikos selbst lässt im Hinblick auf die zweite Stimme keinen definitiven Entscheid zu; er gibt sich einerseits seriös und reflektiert, enthält andererseits aber auch den zitierten Hinweis auf den ausgelösten Lachreiz. Wenn der Text nicht eindeutig ist, so lassen sich vielleicht der zeitgenössischen Resonanz auf ihn Anhaltspunkte dafür entnehmen, ob der ‹ungefiederte Zweibeiner› Spaß oder Ernst war. So können wir beispielsweise fragen, ob Diogenes von Sinope wohl so sarkastisch reagiert hätte, wenn Platon bloß hätte scherzen wollen. Denn heißt es in dem Bericht von Diogenes Laertios nicht ausdrücklich, dass der gerupfte Hahn eingesetzt wurde, weil Platon mit seiner Definition «Beifall fand» (wenn auch nicht den von Diogenes)? Dafür, dass es sich nicht um eine Parodie handelte, spricht auch die von Diogenes Laertios angesprochene Weiterentwicklung der Definition. Konfrontiert mit einem gerupften Hahn, der nach der ursprünglichen Definition ja als ‹Mensch› hätte klassifiziert werden müssen, veränderte man in der Akademie die Definition, indem man die Unterscheidung zwischen ungefiederten Zweibeinern mit spitzen Nägeln (= Federvieh) und ungefiederten Zweibeinern mit breiten Nägeln (= Menschen) hinzufügte. Diese verbesserte Definition ist unter den pseudoplatonischen Begriffsbestimmungen überliefert. Sie lautet: «Mensch: Lebewesen, ohne Flügel, zweifüßig, mit breiten Nägeln, das als einziges unter allen, die es gibt, des vernunftgeleiteten Wissens teilhaftig ist.» ( Def. 121) Bemerkenswert ist, dass diese erweiterte Fassung nicht nur die Breitnägeligkeit als ein weiteres körperliches Merkmal hinzufügt, sondern auch ein inneres Merkmal: die Fähigkeit zu rationaler Erkenntnis. Darauf wird später noch einzugehen sein. Hier genügt zunächst der Befund, dass man in der Akademie auf die Zweibeinigkeit nicht zu verzichten bereit war.
    Der Akademie hatte auch Aristoteles über zwei Jahrzehnte hinweg angehört. Mit dem dihäretischen Verfahren war er daher bestens vertraut und hat es in seinen eigenen Schriften methodologisch reflektiert und weiterzuentwickeln versucht. Der «ungefiederte Zweibeiner» war ein Ergebnis dieses Verfahrens. Oder besser: Er war nicht ein, sondern das mit ihm erzielte Ergebnis. Diesen Schluss legt jedenfalls die extensive Verwendung dieser Definition in den aristotelischen Schriften nahe. Wer die im Organon zusammengefasste Reihe seiner frühen methodologischen Schriften durchgeht, wird den «ungefiederten Zweibeiner» in nahezu allen von ihnen finden; allein in der Topik mehr als ein Dutzend Mal. Auch in anderen Schriften wird diese Definition erwähnt oder wiederholt benutzt. [6] So beispielsweise in der Analytica posteriora in einem Kapitel, in dem Aristoteles die Größe und Grenzen des dihäretischen Verfahrens diskutiert: «Was ist ein Mensch? Lebewesen, sterblich, mit Füßen versehen, zweifüßig, ohne Flügel …» (II,5 91b39–92a2) Die Herkunft dieser Definition aus den platonischen Dihäresen ist deutlich erkennbar und charakteristischerweise argumentiert Aristoteles weder hier, noch an anderen Stellen für die Platonische Definition. Für so selbstverständlich hielt er sie offenbar. Das sollte genügen, um die geschmähte Definition nicht als bloße Parodie abzuhaken. Und wenn es einer weiteren Bestätigung dafür bedarf, so liefert sie Sextus Empiricus an zwei Stellen seines Werkes, an denen er Platons Definition zitiert und sich mit ihr als einem von mehreren Versuchen zur Definition des Menschen auseinandersetzt. ( Adv. math.  VII,281–82; Grundriß II,28) Natürlich findet sie bei Sextus ebenso wenig Gnade, wie sie bei Diogenes gefunden hatte. Aber dieses Schicksal teilt sie mit allen anderen Definitionen die Sextus diskutiert. –Für uns ist allein wichtig, dass sie genauso ernst genommen wurde wie die Bestimmung «Der Mensch ist ein rationales sterbliches Lebewesen, das des Denkens und des Wissens fähig ist». Und das berechtigt zu der Annahme, dass Platons Vorschlag nicht bloß als Übung oder Spaß, sondern als eine
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