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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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von dieser Definition irritiert oder amüsiert. Dies lässt eine Begebenheit erkennen, die Diogenes Laertios im VI. Buch seiner Philosophiegeschichte überliefert. Der berüchtigte Kyniker und notorische Spötter Diogenes von Sinope, der Platon ohnehin für einen «Schwätzer» hielt, machte auch die im Politikos entwickelte Definition zur Zielscheibe seines Witzes. «Da Platon mit seiner Definition, der Mensch sei ein zweifüßiges, federloses Lebewesen, Beifall fand, rupfte Diogenes einen Hahn, trug ihn in den Unterricht und rief: ‹Hier ist Platons Mensch.› Deshalb fügte man der Definition ‹breitnägelig› hinzu.» (26; 40) Für einen Antitheoretiker wie Diogenes war Platons Definition natürlich ein willkommener Beleg für die Verstiegenheit eines Denkens, das einen gewaltigen methodischen Aufwand betreibt und damit doch nur ein klägliches Resultat zutage fördert. – Das war aber nur der Anfang einer bis heute nicht abgerissenen Kette unschmeichelhafter Kommentare. Im 16. Jahrhundert rechnete Montaigne Platons Definition unter die «Eselsstreiche, welche die menschliche Vernunft begeht». Unser Wissen, so meint Montaigne in seiner Schutzschrift für Raimond von Sebonde, gleicht jenen bewohnten Ländern, die von Sümpfen, Wäldern und Wüsten umgeben sind; es bildet nur kleine Inseln in einem Meer der Unwissenheit. «Dieses ist die Ursache, warum diejenigen, welche die erhabensten Sachen abhandeln, und am weitesten darinnen gehen, in die gröbsten und kindischsten Fehler verfallen, und sich in ihrer Neugierde und Einbildung vertiefen. Das Ende und der Anfang der Wissenschaft laufen auf gleiche Dummheit hinaus. Man betrachte einmal den Plato, wenn er sich in seinen poetischen Wolken in die Höhe schwingt. Man betrachte einmal bey ihm das kauderwälsche Geplauder der Götter. Allein, wo dachte er dann hin, da er den Menschen als ein zweyfüßiges Thier ohne Federn beschrieb? Er gab hiedurch denenjenigen, die ihn zu verspotten geneigt waren, eine schöne Gelegenheit: denn, sie rupften einen Kapaun lebendig, und nannten denselben einen platonischen Menschen.» (1580: 255f.) Wenn die größten und weisesten Männer, so schließt Montaigne, in so offenkundige Irrtümer verfallen konnten, so lasse sich daraus zur Genüge feststellen, was von der menschlichen Vernunft zu halten sei: wenig oder nichts.

    Abb. 1: Diogenes mit Platons Mensch. Ugo da Carpi, Diogenes, Homo Platonicus. Holzschnitt (1526)
    Gnädiger ist das Urteil John Lockes. Für die einen sei der Mensch ein «animal rationale», für die anderen eben ein «animal implume bipes latis ungibus», ohne dass den einen Recht und den anderen Unrecht gegeben werden könne. Es lasse sich nicht leicht nachweisen, «warum Platons animal implume, bipes, latis ungibus keine gute Definition für den Namen Mensch sein sollte». (1689: 69, 158) Mit einem Wort: Platons Definition ist zwar nicht schlechter als konkurrierende Definitionen, aber auch nicht besser. Dem mochte sich Leibniz nicht anschließen. Platons Definition sei «als schlecht zu bezeichnen» und wohl «nur zur Übung aufgestellt» worden. (1704: 396f.) Das ist eine seltsame Vermutung, denn üben sollte man doch an und mit dem, was Hand und Fuß hat; gerade das hat Platons Definition nach Leibniz aber nicht, obwohl Füße in ihr vorkommen. – Als Edgar Allan Poe in einem Zeitungsbeitrag aus dem Jahre 1843 vorschlug, den Menschen als «das Lebewesen, das schwindelt» zu definieren, da erinnerte er ausdrücklich an den Fehlschlag Platons und die Kritik des Diogenes, um die Überlegenheit seiner eigenen Definition zu unterstreichen: «Wäre Plato auf diesen Einfall gekommen, so hätte er sich die böse Blamage mit dem gerupften Huhn ersparen können. Dem Philosophen ward nämlich einmal mit der gar nicht so abwegigen Frage zugesetzt, warum ein gerupftes Hühnchen, das doch ganz offensichtlich ein ‹zweibeiniges Wesen ohne Federn› sei, denn nicht – nach seiner eigenen Definition – ein Mensch wäre. Mit solchen Querfragen soll man mir aber nicht kommen. Der Mensch ist ‹das schwindelnde Tier›, und es gibt kein schwindelndes Lebewesen außer dem Menschen. Um mir das zu widerlegen, müßte man mir schon gleich einen ganzen Stall voll gerupfter Hühner anbringen.» (1843: 159) – Von einem möglichen Missgriff Platons wollte Hans Blumenberg demgegenüber nichts wissen. Ähnlich wie Leibniz vermutet er daher, dass die irritierende Definition nicht ernst, sondern «ironisch und wohl den
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