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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Und diese werden, wie wir gerade erfahren haben, als zahme, auf dem Land lebende, zu Fuß gehende, ungehörnte, sich nur innerhalb ihrer Art fortpflanzende und zweibeinige Tiere bestimmt.
    Die philosophische Wendung nach innen scheint hier rückgängig gemacht zu sein. Die Seele des Menschen wird nicht einmal erwähnt; auch seine Vernunft- und Sprachbegabung nicht. Das dihäretische Verfahren nimmt nur körperliche Merkmale in den Blick und die resultierende Definition ist daher rein zoologischer Natur. Auffällig ist dabei die zweifache Nennung der Fortbewegungsweise; denn der Mensch wird einmal als «zu Fuß gehend», später dann noch als «zweifüßig» bestimmt. Darin erinnert der Politikos an das Rätsel der Sphinx, in dem der Mensch durch seine Körperhaltung und Fortbewegungsweise charakterisiert worden war. Der Mythos hatte mit dieser Bestimmung aber wohl kaum irgendwelche theoretischen Ansprüche verbunden und wollte auch keine Definition des Menschen geben. Er nimmt auf die Körperhaltung und Fortbewegungsweise ganz unschuldig als ein augenfälliges Erkennungsmerkmal Bezug, während Platons Dialog ein penibles Verfahren vorführt, das durch eine längere methodologische Reflexion unterbrochen wird. (262a5–264b6) Umso merkwürdiger berührt das kuriose Resultat dieses Verfahrens, das, wie es im Dialog selbst heißt, «zum Lachen reizt». Auf umständlichen Wegen kommen wir ja zu einer Definition, die den Menschen unmittelbar neben das Schwein stellt: Mit ihm teilt er nämlich alle umständlich aufgeführten Merkmale, ausgenommen die Zahl der Beine. Ein solches Ergebnis, wiegelt dann aber der Wortführer ab, sei nicht verwunderlich, da sich die gewählte Methode nicht um Unterschiede in der Ehrwürdigkeit der untersuchten Sache kümmere und das Kleinere nicht geringer als das Große schätze, sondern zur Wahrheit durchzudringen suche. (266c–d) Als lächerlich, so wird uns hier bedeutet, kann die enge Nachbarschaft von Mensch und Schwein nur einem oberflächlichen und vorurteilsbehafteten Denken erscheinen, das sich noch nicht auf die Höhe des dihäretischen Verfahrens zu schwingen vermocht hat. – Zur Bekräftigung dieser Auskunft wird dann im unmittelbaren Anschluss ein zweiter, kürzerer Anlauf zur Definition des Staatsmannes unternommen, der dort einsetzt, wo in dem ersten Verfahren zwischen geflügelten und zu Fuß gehenden Tieren unterschieden worden war. Diese Letzteren werden in dem abgekürzten Definitionsverfahren nun in Vier- und Zweifüßige geteilt; und die Letzteren wiederum in Gefiederte und Nackte. Das Ergebnis dieser kürzeren Dihärese ist nicht ganz identisch mit dem der längeren, unterscheidet sich aber auch nicht gerade drastisch von ihm. Es lautet: Der Mensch ist ein ungefiederter Zweibeiner.

    Zweite, kurze Dihärese: Platon, Politikos 266e
    Der Mensch als ungefiederter Zweibeiner! Was sollen wir von diesem kläglichen Resultat eines umständlichen Definitionsverfahrens halten? Vor allem: Wie können wir es mit der in anderen Dialogen Platons entwickelten Auffassung vom Menschen vereinbaren? In der Sekundärliteratur ist die Definition des Politikos gelegentlich als Indiz für einen Wandel in Platons Auffassung vom Menschen gedeutet worden. Der Spiritualismus der frühen und mittleren Dialoge sei in den späteren Schriften wie dem Timaios und eben auch dem Politikos durch eine Aufwertung des Körpers korrigiert worden. Das dihäretische Verfahren lasse erkennen, dass in der Akademie nicht nur abstrakte Philosophie, sondern auch methodisch kontrollierte empirische Forschung betrieben wurde, die auf ähnliche spätere Arbeiten von Aristoteles vorausweise. Dies würde erklären, warum in den hier referierten Überlegungen ausschließlich auf körperliche Merkmale Bezug genommen, warum der Mensch als Tier unter Tieren behandelt und (in der langen Version) in die Nachbarschaft der Schweine oder (in der kurzen) in die Nachbarschaft der Hühner gerückt wird. In einem naturwissenschaftlichen Kontext sollten solche Affinitäten nicht als anstößig angesehen werden. – Besteht aber in Platons Werk tatsächlich eine solche Scheidung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft? Können wir ihm eine theoretische Doppelstrategie zuschreiben, die in einem Teil seines Werkes den Menschen auf die Seele reduziert, in einem anderen Teil jedoch auf den Körper? Und sollen wir glauben, dass Platon den Menschen allen Ernstes für einen ungefiederten Zweibeiner hielt?
    Schon die Zeitgenossen waren
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