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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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‹echte› Definition des Menschen gemeint war und aufgefasst wurde.
    Wir können also festhalten, dass die Zweifüßigkeit des Menschen und der durch sie bedingte spezifische Körperbau die philosophische Wendung nach innen unbeschadet überstanden hat; dass sie ungeachtet des höhnischen Gelächters der Mit- und Nachwelt zum Kern einer zwar umstrittenen, aber doch langlebigen Definition wurde. Immerhin bekannte sich Wolfgang Stegmüller noch im Jahre 1970 dazu, eher den Satz ‹alle und nur die Menschen sind ungefiederte Zweibeiner› für analytisch zu halten, als den Satz ‹alle und nur die Menschen sind vernünftige Lebewesen›. Denn: «Ich würde lieber die Tatsache in Kauf nehmen, ein lebendes gerupftes Huhn als Mensch zu bezeichnen, als ameisenähnliche vernünftige Wesen auf einem fernen Planeten als Menschen zu bezeichnen, ganz zu schweigen davon, daß ich größte Skrupel hätte, gewisse unter meinen Zeitgenossen unter die Rubrik ‹vernünftige Lebewesen› subsumieren zu müssen.» (1970: 208) Ob diese Einlassung ihrerseits ernst gemeint war, kann offenbleiben. (Wenn es um ungefiederte Zweibeiner geht, scheinen die Scherze kein Ende zu nehmen.) Dieses hartnäckige Überleben der menschlichen Zweibeinigkeit ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie als Erkennungsmerkmal keineswegs alternativlos war und ist. Der Mensch ist nicht nur zweibeinig, sondern beispielsweise auch unbehaart. Aber schon die Sphinx hatte nicht gefragt, welches Wesen «allein von allem Getier» konstitutionell nackt umhergeht. Im Politikos wird zwar die Federlosigkeit erwähnt, aber diese ist nicht gleichbedeutend mit Nacktheit; auch Hunde und Fische sind federlos. Eine Ausnahme finden wir in der philosophischen Erzählung des mittelalterlichen arabischen Arztes Ibn Tufail, der im Vorgriff auf die ‹wilden Kinder› des 18. Jahrhunderts die hypothetische Entwicklung eines Säuglings schildert, der allein auf einer Insel aufwächst, von einer Gazelle ernährt wird, und dann schrittweise zu einem universal gebildeten Philosophen heranwächst. Die Selbsterkenntnis dieses Menschenkindes lässt Ibn Tufail nicht mit der Zweifüßigkeit und dem aufrechten Gang beginnen, sondern mit der Erkenntnis der Nacktheit. Zunächst ahmt das wilde Kind die Stimmen der Tiere nach, unterscheidet sich in der Sprache also nicht von ihnen; bald aber erkennt es, dass seine tierischen Kameraden mit Fellen, Haaren oder Federn bekleidet und ihm körperlich überlegen sind. «Darauf blickte er auf sich selbst und sah ein, dass er nackt und wehrlos war, ein schlechter Läufer und schwacher Kämpfer … Weiter schaute er auf die Austrittsstellen der Körperausscheidungen und fand, dass diese bei den anderen Tieren bedeckt waren, und zwar die für die festen Ausscheidungen mit einem Schwanz und die für die dünnflüssigen mit Haaren oder ähnlichem. Und auch die Geschlechtsteile waren bei ihnen besser versteckt als bei ihm. All das bereitete ihm Kummer und Sorge.» (1175: 26f.) Bei Ibn Tufail bilden also die Ausscheidungsorgane den Ausgangspunkt der menschlichen Selbsterkenntnis!
    Das ist eine Alternative zu den Füßen. Aber warum hat sie sich nicht durchgesetzt? Wenn die Sphinx und Ödipus ihre Aufmerksamkeit auf die wechselnde Zahl der Füße und den damit verbundenen Wandel der Körperhaltung und der Fortbewegungsweise konzentriert hatten, so mag das an ihrer Befangenheit im mythischen Denken gelegen haben. Die Wendung nach innen hat noch nicht stattgefunden. Für Platons späte
    Definition kann diese Entschuldigung nicht in Anspruch genommen werden, denn hier war diese Wendung lange vollzogen.

3. Eine hartnäckige Anmutung
… denn die Gestalt scheint als die Hauptqualität diese Art [= Mensch] mehr zu bestimmen als die Fähigkeit des vernünftigen Denkens …
J. Locke
    Ein erster Grund für die fortdauernde Attraktivität der Zweifüßigkeit liegt sicher in der Macht des Augenscheins. Einen Menschen wahrnehmen heißt in der Regel: ein zweifüßiges, aufgerichtetes Lebewesen wahrnehmen. Obwohl sich die Philosophie gern von Äußerlichkeiten dieser Art zu emanzipieren und in die Höhen der Abstraktion aufzuschwingen oder in das ‹Wesen› zu vertiefen sucht, scheint die phänomenale Anmutung einer Objektklasse gelegentlich zu einprägsam zu sein, um sie ohne weiteres loswerden zu können. So kann es uns einfach widerstreben, «ameisenähnliche vernünftige Wesen auf einem fernen Planeten als Menschen zu bezeichnen», weil die Anmutungsqualität
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