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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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nichts ändern.
    Etwas ausführlicher müssen wir den dritten Grund für das theoretische Überleben der Zweifüßigkeit betrachten. Definitionen und die auf ihnen aufbauenden Klassifikationen sollen Übersicht und Ordnung in die Vielfalt der Phänomene bringen. Dem können theoretische, aber auch praktische Interessen zugrunde liegen; denn Übersicht und Ordnung erleichtern adäquates Handeln. Am Begriff ‹Mensch› ist diese praktische Relevanz deutlich zu erkennen: Wenn ein Individuum unter ihn fällt, stehen ihm Arten der Behandlung zu, die anderen Individuen nicht zustehen. Nun bereitet es in der Regel zwar keine Schwierigkeit, ein Individuum als Mensch zu identifizieren. In einigen Fällen können aber doch Zweifel auftreten, die dann die Frage nach genaueren Kriterien für die Subsumtion unter ‹Mensch› provozieren. Zu diesen Fällen zählen exotische Lebewesen, die zwar gewisse Ähnlichkeiten mit Menschen aufweisen, in anderer Hinsicht aber deutlich verschieden sind. So berichtet Aristoteles von «Pygmäen», zwergenhaften Höhlenbewohnern, ellengroß oder kleiner, denen verschiedene phantastische Eigenschaften zugeschrieben wurden. ( Hist. anim.  VIII,12 597a6–8) Augustinus war nicht mehr sicher, ob sie überhaupt existieren; aber noch Albertus Magnus diskutiert verschiedene Kriterien, die Klarheit über ihre Zugehörigkeit zur Klasse der ‹Menschen› schaffen sollten. Natürlich gehörte auch der aufrechte Gang zu den Kandidaten für solche Kriterien. [8] Später hat man gelegentlich darüber gestritten, ob die menschenähnlichen Bewohner neu entdeckter Erdteile ‹Menschen› seien; und bis heute spekulieren manche über intelligente Wesen irgendwo im Universum.
    Eine weniger exotische Fallgruppe bilden missgebildete menschliche Nachkommen, die gern als «monstra» bezeichnet wurden. In einem solchen Fall erhebt sich, wie Hobbes schreibt ( De cive  XVII) «die Frage, ob dieses Kind ein Mensch sei, und es erhebt sich die weitere Frage, was ein Mensch sei». Seinem autoritären Staatsverständnis folgend, schlug Hobbes vor, keine Rücksicht auf die aristotelische Definition des Menschen als eines vernünftigen Wesens zu nehmen und dem Staat die Antwort auf beide Fragen zu überlassen. Diese Lösung bleibt aber deswegen unbefriedigend, weil auch der Staat Kriterien für seine Entscheidung benötigt, wenn diese nicht willkürlich sein soll. Ausführlicher befasst sich John Locke im zweiten Band seines Buches Über den menschlichen Verstand mit dem Problem. Die Theoretiker bemühen sich nach Lockes Eindruck seit jeher darum, ihre Klassifikationen und Definitionen der Dinge auf Einsichten in deren «reale Wesenheiten» zu stützen. Dies gilt auch und gerade für den Begriff ‹Mensch›: «Wenn wir sagen, daß die Definition animal rationale eine gute Definition des Menschen sei, die Definition animal implume, bipes, latis unguibus dagegen nicht, so ist es klar, daß wir dabei voraussetzen, daß der Name Mensch in diesem Falle für die reale Wesenheit einer Art stehe; das bedeutet, wir wollen zum Ausdruck bringen, daß die Worte ‹ein vernunftbegabtes animalisches Wesen› jene reale Wesenheit besser kennzeichnen als die Definition ‹ein zweibeiniges animalisches Wesen mit breiten Nägeln und ohne Federn›.» (1689: 132) Das Problem bestehe nun darin, dass die «realen Wesenheiten» der Dinge für uns epistemisch unzugänglich sind: Wir können zwar Spekulationen über die innere Beschaffenheit der Dinge anstellen, da diese aber per definitionem nicht wahrnehmbar ist, können wir kein echtes Wissen von ihr haben. Deshalb beruhen unsere Klassifikationen und Definitionen auf den äußeren Merkmalen der Dinge und können auf nichts anderem beruhen. Auch bei der Definition von ‹Mensch› orientieren wir uns daher an seiner aufrechten Gestalt, obwohl sie von niemandem ernsthaft für eine «reale Wesenheit» angesehen werde. Ein vernünftiges Wesen, das eine vollkommen andere Gestalt besäße (wie etwa Bileams Esel), würden wir nicht als einen ‹Menschen› ansehen; während wir geneigt sind, geistig Schwerstbehinderte, die kein Zeichen von Vernunft zeigen, für ‹Menschen› zu halten, eben weil sie eine menschliche Gestalt besitzen. «Deshalb wird es sich nicht leicht nachweisen lassen, warum Platos animal implume, bipes, latis unguibus keine gute Definition für den Namen Mensch sein sollte, der jene Art von Geschöpfen bezeichnet; denn die Gestalt scheint als die Hauptqualität diese Art mehr zu
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