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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Sokrates das weitere Gespräch so, dass die zweite und dritte der genannten Möglichkeiten ausgeschieden werden. Es bleibt dann nur noch die erste, nämlich «daß die Seele der Mensch ist». (130b–c) Das ist natürlich eine eher einseitige Bestimmung. Sie geht weit über den ohnehin schon berüchtigten Leib-Seele-Dualismus hinaus, da sie den Körper und seine Gestalt für vollkommen irrelevant erklärt; irrelevant zumindest als definitorisches Merkmal. Uns interessiert hier aber nicht der darin liegende Extremismus, sondern der darin liegende Übergang von außen nach innen: Die Definition nimmt allein auf etwas Inneres, den Sinnen verborgenes Bezug. Wenn er zum Gegenstand des philosophischen Denkens wird, ergeht es dem Menschen nicht anders als beliebigen anderen Gegenständen: Seine sinnlich wahrnehmbare Gestalt tritt in den Hintergrund und eine hinter ihr liegende, ontologisch und epistemisch grundlegende Dimension wird hervorgehoben. Das körperliche Dasein des Menschen erscheint als eine bloße Oberfläche, hinter die zurückgegangen werden muss, um zu seinem «eigentlichen Wesen» vordringen zu können.
    Mehr oder weniger stark ausgeprägt finden wir diese Tendenz auch im nachfolgenden anthropologischen Denken. Aristoteles, der die Frage ‹Was ist der Mensch?› häufiger stellt als sein Lehrer Platon, vollzieht in seinen berühmtesten und wirkmächtigsten Definitionen einen ähnlichen Übergang von der physischen Seite auf ein dahinterliegendes ‹Wesen›. Der Mensch wird in ihnen durch seine Vernunft- und Sprachbegabung (zoon logon echon) oder durch sein soziales Wesen (zoon politikon) bestimmt. [3] Beide Definitionen sind bis heute eng mit dem Namen Aristoteles’ verbunden und vor allem die erste von ihnen hat in der Philosophiegeschichte über viele Jahrhunderte hinweg eine geradezu kanonische Geltung besessen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass wir uns (in der Innenperspektive) als denkende und sprechende Wesen erleben und diesen Tätigkeiten große Bedeutung zuschreiben. Zum anderen liegt es daran, dass wir (in der Außenperspektive) mit dem Rückgriff auf die Vernunftbegabung eine Fülle von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Errungenschaften des Menschen erklären und in ein zusammenhängendes Gesamtbild bringen können. Und genau das ist ja ein zentrales Ziel des philosophischen Denkens: ein möglichst stimmiges Bild der Welt, uns selbst eingeschlossen, zu liefern, dessen orientierende Kraft dem bloßen Augenschein überlegen ist. Dazu muss es etwas offenlegen, das in der ‹Tiefe› der Gegenstände verborgen ist; es muss ihr ‹Inneres› enthüllen, ihr ‹Wesen›. In der Wendung nach innen liegt der ganze Stolz der Philosophie; denn auf ihr beruht die Über legenheit, die sie sich im Vergleich nicht nur zum Alltagsdenken, sondern auch zum Mythos zuschreibt.
    Dass diese Zuschreibung nicht grundlos ist, zeigt ein Rückblick auf das vorphilosophische Denken über den Menschen. Wenn die systematische philosophische Reflexion über diesen scheinbar bekanntesten aller Gegenstände auch erst spät einsetzt, so heißt das nicht, dass der Mensch vor und außerhalb der Philosophie vollkommen ignoriert worden wäre. Im Gegenteil: Die griechische Kultur, Religion und Mythologie, vor allem die berühmte Forderung des delphischen Apoll «Erkenne dich selbst!», sind oft als die Geburtsstätte der Idee des Menschen charakterisiert worden. In seinen Vorlesungen über die Geschichte deutet Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Forderung so: «In diesem Spruche ist nicht etwa die Selbsterkenntnis der Partikularitäten seiner Schwächen und Fehler gemeint; es ist nicht der partikuläre Mensch, der seine Besonderheit erkennen soll, sondern der Mensch überhaupt soll sich selbst erkennen. Dieses Gebot ist für die Griechen gegeben, und im griechischen Geist stellt sich das Menschliche in seiner Klarheit und in der Herausbildung desselben dar.» [4] Im unmittelbaren Anschluss führt Hegel ein zweites Zeugnis der frühen Selbstvergewisserung des Menschen in der griechischen Kultur an: das Rätsel der Sphinx und seine Lösung durch Ödipus. Nach diesem Mythos ließ sich vor langer Zeit auf dem nahe der Stadt Theben gelegenen Berg Phikion eine Sphinx nieder, die jeden Vorbeiziehenden mit einem Rätsel konfrontierte. Wer es nicht lösen konnte, wurde von dem Ungeheuer umgebracht und verschlungen. Viele Menschen hatten auf diese Weise schon ihr Leben lassen müssen, bis Ödipus nach Theben kam und sich der Sphinx
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