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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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stellte. Als er ihr die richtige Antwort gab, sprang das Ungeheuer erschrocken in die Tiefe und zerschmetterte am Fuß des Berges. – Der Mythos ist bekannt. Dennoch sollten wir uns des genauen Wortlauts des Rätsels und seiner Lösung vergewissern, wie ihn Sophokles seiner Tragödie König Ödipus voranstellt:
Das Rätsel der Sphinx
Zweifüßig, dreifüßig, vierfüßig lebt es auf Erden, und eine
Stimme nur hat es; doch wechselt’s allein von allem Getier, das
Sich auf der Erde bewegt, in der Luft und im Meer, seine Haltung.
Aber sobald es auf den drei Füßen, sich stützend, einhergeht,
dann ist äußerst gering die Geschwindigkeit seiner Gelenke.
Lösung des Rätsels
Hör, auch wenn du nicht willst, bösflatternde Muse der Toten,
auf mein Wort: nach Gebühr hat nun dein Treiben ein End’!
Meintest du doch den Menschen, der, wenn er der Erde genaht ist,
vierfüßig, töricht zuerst geht aus den Windeln hervor;
doch ist er alt, so stützt er als dritten Fuß auf den Stab sich,
trägt eine Last auf dem Hals, weil ja das Alter ihn beugt.
    Die Sphinx beginnt ihr Rätsel mit der wechselnden Zahl der Füße des gesuchten Wesens und spielt damit zugleich auf die sich daraus ergebenden Unterschiede in seinen Körperhaltungen und Fortbewegungsarten an. Die Sphinx hebt also die Veränderlichkeit und Wandelbarkeit des gesuchten Wesens hervor, die ausdrücklich als ein Alleinstellungsmerkmal hervorgehoben wird: Kein anderes Getier wechselt seine Haltung. In diesem Punkt erinnert das Rätsel an ein Dokument aus der ägyptischen Heimat der Sphinx, an einen Papyrus aus der 20. Dynastie (1171–1085 v. Chr.), in dem der Sonnengott sinngemäß von sich sagt: ‹Ich bin der Skarabäus am Morgen, ein Mann am Mittag und ein gebeugter, auf einen Stab gestützter Greis am Abend.› [5] Ein Rätsel liegt hier gar nicht vor, denn es ist ja der Sonnengott, der sich selbst beschreibt und damit offen zu erkennen gibt. Die thebanische Sphinx aber sagt nicht, wen sie beschreibt, sondern zählt die sich wandelnde Menge der Füße auf und stiftet gerade damit die Verwirrung, die ihre Aussage zu einem Rätsel macht. Die Lösung wäre ja leicht (zu leicht, um überhaupt noch von einem ‹Rätsel› sprechen zu können) gewesen, wenn die Sphinx nur eine der drei Körperformen genannt hätte: die zweifüßige. Dann wäre unmittelbar das Bild eines zweifüßigen und damit aufrechten Lebewesens evoziert worden und die Lösung hätte auf der Hand gelegen. Denn aufrecht und zweifüßig ist nur der Mensch! Das Rätsel entsteht überhaupt erst dadurch, dass zwei weitere Körperformen angeführt werden; und sicher auch dadurch, dass die drei nicht in der Reihenfolge ihres biographischen Auftretens, sondern in numerischer Ordnung genannt werden. Die List der Sphinx bestand darin, auch die Drei- und Vierfüßigkeit zu erwähnen und das gesuchte Wesen auf diese Weise unkenntlich zu machen. Doch Ödipus lässt sich von diesem Manöver nicht täuschen. Seine Leistung besteht darin, alle drei Körperhaltungen als menschlich zu identifizieren. Die Zweifüßigkeit nimmt unter ihnen jedoch eine Sonderstellung ein, die schon daran sichtbar wird, dass Ödipus sie in seiner Lösung gar nicht mehr erwähnt.
    Die drei- und vierfüßige Fortbewegung bedürfen der Aufklärung; die zweifüßige ist selbstverständlich.
    Für Hegel war die Lösung dieses Rätsels ein Sinnbild der menschlichen Selbsterkenntnis, wenn auch nicht schon der philosophischen Selbsterkenntnis. In seiner Deutung verschlingen sich zwei Gegensatzpaare: Dem orientalischen Geist steht der griechische gegenüber; und dem Mythos die Selbsterkenntnis und das Bewusstsein. Die aus einem menschlichen Kopf, Löwenkörper, Flügeln und Schlangenschwanz zusammengesetzte Sphinx repräsentiert den orientalischen Geist, in dem Mensch und Tier sich noch nicht voneinander gelöst haben; in dem sich der Mensch noch nicht als ein selbstständiges Wesen erfasst hat, sondern noch als ein Teil der Natur begreift. Die Sphinx stellt daher nicht nur das Rätsel, sondern ist es. Denn sie verkörpert eine mythologische Entwicklungsstufe des Menschen, auf der dieser noch kein klares Bewusstsein seiner selbst und seiner Differenz zum Tier entwickelt hat. Dies geschieht erst auf griechischem Boden. Vertreten durch Ödipus, erkennt sich der Mensch in dem Rätsel selbst und führt damit eine neue Epoche des Denkens herbei, in der der Geist aus seiner Versenkung in der Natur auf getaucht und der Mensch zur
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