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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Brunnen vor seinen Füßen übersah und hineinfiel. Eine Magd habe ihn daraufhin ausgelacht und ihm vorgehalten, das Studium der himmlischen Dinge halte ihn von der Erkenntnis dessen ab, «was vor der Nase und vor den Füßen liege». Dieser Spott, so lässt Platon sein Sprachrohr Sokrates kommentieren, passe auf jeden, der sich ganz der Philosophie verschrieben habe, denn ein solcher habe «keine Ahnung von seinem Nebenmann und Nachbar, nicht nur, was er betreibt, sondern beinahe, ob er überhaupt ein Mensch ist oder was sonst für eine Kreatur». (Tht. 174a-b) Die oft nacherzählte und gedeutete Thales-Anekdote macht auf den Gegensatz aufmerksam, der zwischen einer theoretischen Einstellung zur Welt und dem praktischen Leben in dieser Welt besteht; und auch auf die Risiken, die für den Theoretiker damit verbunden sind. Thales ist von seinen theoretischen Interessen so sehr absorbiert, dass er stürzt und sich vor der Magd lächerlich macht. Die Entfremdung des Theoretikers von den Menschen, die sich hier eher komödiantisch-harmlos ausnimmt, weist auf einen weit ernsteren Konflikt voraus, der dann später zur Verurteilung und Hinrichtung des Sokrates führen sollte. – Die Anekdote kann aber auch anders verstanden werden. Wir erfahren aus ihr ja, dass die theoretische Einstellung zur Welt und die Konzentration auf den Himmel mit einem theoretischen Desinteresse an dem scheinbar so naheliegenden Gegenstand ‹Mensch› verbunden war. Solange der Blick «nach oben» gerichtet bleibt, rangiert der «Nebenmann und Nachbar» unter den vielen Dingen, die zu sehr «vor der Nase und vor den Füßen» liegen, um mehr als nur beiläufig wahrgenommen zu werden. So verstanden, identifiziert die Anekdote einen Grund für das anthropologische Defizit der vorsokratischen Philosophie. Dass der Mensch in ihr nur am Rande vorkommt, ist kein Zufall, sondern Konsequenz einer bestimmten Ausrichtung der theoretischen Aufmerksamkeit.
    Der anschließende Satz, den Platon Sokrates in den Mund legt, beginnt daher mit einem «aber» und plädiert für eine Neuausrichtung dieser Aufmerksamkeit. Er gibt eine Ultrakurzfassung des sokratischen Theorieprogramms: «Aber das eigentliche Wesen des Menschen und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt, das ist es, wonach er sucht und unermüdlich forscht.» Die Theorie soll sich vom Himmel ab- und dem Menschen und seinen Angelegenheiten zuwenden. Damit wird ein Schritt in Richtung auf eine Theorie des Menschen getan und einige Interpreten haben tatsächlich von einer ‹anthropologischen Wende› bei Sokrates und der Sophistik allgemein gesprochen. Doch es war nur ein Schritt, der hier getan wurde, denn es geht Sokrates um das «eigentliche Wesen des Menschen» weniger aus anthropologischem als aus ethischem Interesse. Seine Fragen richten sich vornehmlich auf das, was dem Menschen aufgrund seines Wesens «zu tun oder zu leiden zukommt». Erst viele Jahrhunderte später, in der frühen Neuzeit, wird sich das Interesse am Menschen verselbstständigen; wird sich das anthropologische Denken von den ethischen, kosmischen oder theologischen Bezügen emanzipieren, an die es bis dahin gebunden war, und einen separaten Zweig der Theorie bildung austreiben. Davon ist Sokrates noch weit entfernt. Immerhin aber spricht er ausdrücklich vom «eigentlichen Wesen des Menschen» und wirft damit das Problem auf, das den Kern des anthropologischen Denkens bildet. Und zumindest in einem Dialog richtet er die von ihm in den Mittelpunkt seines philosophischen Ansatzes gerückte ‹Was-ist›-Frage auch auf den Menschen selbst.
    Dabei handelt es sich um den im Altertum mit dem Untertitel Über die menschliche Natur versehenen Dialog Alkibiades I, der heute nicht mehr als authentischer Platon-Text gilt; da seine Entstehung im Umkreis der Akademie jedoch außer Zweifel steht, kann er als ‹platonisch› in einem weiteren Sinne gelten. In ihm stellt Sokrates direkt die Frage nach dem, was doch alle kennen: «Was ist nun also der Mensch?» (129e) Damit ist die Frage nach einer Definition des Menschen in der Welt; und es wird von nun an nicht an Bemühungen um eine Antwort fehlen. – Natürlich gibt Sokrates in Alkibiades I eine solche Antwort. Genauer: Er lässt eine Antwort geben. Zunächst konfrontiert er die Titelfigur des Dialogs mit drei Möglichkeiten: Der Mensch sei entweder Seele; oder Körper; oder aus beidem zusammengesetzt. Nachdem Alkibiades dies zugegeben hat, lenkt
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