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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Autoren: Kurt Bayertz
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Ordnung der Welt ohne ein denkendes, sondern auch weil sie ohne ein den Himmel betrachtendes Wesen unvollständig geblieben wäre.
    Das literarische Echo der ovidischen Schöpfungserzählung war gewaltig. Es hallte durch die beiden nachfolgenden Jahrtausende und ist bis heute zu vernehmen. Dem in ihr enthaltenen Hinweis auf den aufrechten Gang und den damit ermöglichten Blick zum Himmel werden wir in den folgenden Kapiteln noch oft begegnen: zum Beispiel bei Petrarca, Calvin, Montaigne, Rousseau oder Baudelaire. – Für uns ist diese Erzählung aber nicht wegen ihrer poetischen Wirkmacht, sondern wegen ihrer inhaltlichen Unoriginalität von Belang. Kein einziges ihrer Motive kann auf das Erfindungskonto des Dichters gebucht werden! [1] Ausnahmslos alle gehören zum Bildungsgut der antiken Welt und hatten um die Zeitenwende, als die Metamorphosen verfasst wurden, längst den Status von Gemeinplätzen erlangt. Wohl gerade deshalb hat Ovid sie seinem Werk vorangestellt, das in den späteren Teilen noch genug Originelles und Provokatives präsentieren sollte. Seine knappe Schöpfungserzählung ist die poetische Aufbereitung einer Deutung der Welt und der Stellung des Menschen in dieser Welt, deren Wurzeln bis in die vorsokratische Periode zurückreichen, bevor sie in den Werken von Platon, Aristoteles und der Stoa systematisch ausgearbeitet wurde. In einem Sinne, der weiter unten noch zu präzisieren sein wird, ist diese Weltdeutung ‹kosmologisch›. Die Welt ist ihr zufolge ein Kosmos, d.h. eine sinnvoll geordnete Ganzheit, und der Mensch ihr integraler Teil. Die sechs Denkmotive sind tragende Säulen dieser Weltdeutung, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auch als ‹klassisch› charakterisiert werden kann. Wir werden sehen, dass die in ihr entfaltete Ordnungsidee eine Strahlkraft besitzt, die weit über die Antike hinausreicht und erst in der Neuzeit zu erlöschen beginnt.

1. Die Wendung nach innen
Aber das eigentliche Wesen des Menschen und was ihm demgemäß im Unterschied von den anderen zu tun oder zu leiden zukommt, das ist es, wonach [der Philosoph] sucht und unermüdlich forscht.
Platon
    Obwohl die Wurzeln der von Ovid poetisch reformulierten klassischen Selbstdeutung des Menschen weit zurückreichen, wahrscheinlich über die Anfänge der Philosophie hinaus in den Mythos, sollte es sehr lange dauern, bis diese Selbstdeutung theorieförmig ausgearbeitet wurde. Von einem ausgeprägten Interesse am Menschen kann in der frühen Phase des philosophischen Denkens keine Rede sein. Wenn es eine Art natürlicher Reihenfolge gibt, in der die Dinge zu Bewusstsein kommen und zum Gegenstand des Denkens werden, dann steht der Mensch selbst nicht an ihrer Spitze! Die griechische Philosophie hat sich ihm erst spät zugewandt und an ihrer Entwicklung ist gut nachzuvollziehen, wie voraussetzungsreich die Idee des Menschen ist, wie lange es gedauert hat und wie viel Mühe aufgewandt werden musste, um sie klar zu erfassen. In seinen Anfängen richtete sich das griechische Denken bekanntlich vor allem auf die überwältigenden Phänomene ‹da draußen›, auf die leuchtenden Himmelskörper etwa, die ihre regelmäßigen Bahnen am nächtlichen Himmel ziehen. Es fragte also nach dem, was wir heute ‹Natur› nennen, und suchte sich ihre vielfältigen Erscheinungsformen zurechtzulegen. Wenn es richtig ist, dass die Philosophie mit der Verwunderung begann, so gehörte der Mensch damals nicht zu den Gegenständen, die Verwunderung hervorriefen. Bei genauerem Zusehen gibt es auch keinen Grund, etwas anderes zu erwarten. Denn was könnte gewöhnlicher und daher weniger verwunderlich für den Menschen sein, als jene Wesen, unter denen er aufgewachsen ist, mit denen er sein alltägliches Leben verbringt und von denen er selbst eins ist? Während die äußere Welt täglich aufs Neue Staunen hervorrufen und zum Anstoß des theoretischen Denkens werden konnte, gab sich der Mensch selbst keine Rätsel auf. Noch im fünften vorchristlichen Jahrhundert, als die allererste Jugend der Philosophie längst verstrichen war, charakterisierte Demokrit den Menschen als das Wesen, das wir alle kennen. [2] Warum hätte man über etwas eingehend nachdenken sollen, das alle kennen?
    Dieses Desinteresse illustriert auch jene berühmte Anekdote aus vorsokratischer Zeit, die Platon im Theätet erzählt. Ihr zufolge war Thales von den Phänomenen am Himmel derart in Anspruch genommen und so sehr in den Blick «nach oben» vertieft, dass er einen
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