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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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wollte, zum Sims, wo sich ihm hilfsbereite Hände entgegenreckten.
    »So. Da sind wir wieder.«
    Sie waren alle wieder da. Als wäre nichts passiert. Charity eilte wimmernd zum Waschbecken, um sich die Augen auszuwaschen. Ihre Haut rötete sich bereits.
    Merkur sang leise. »Gib dich in den Glücksstrom, umarme die Sonne, öffne die Augen …«
    Lucky wischte sich die Hände an den Hosen ab. »Was für eine Stunde haben wir jetzt?«
    »Mathematik«, sagte Moon und schloss das Fenster.

2.
    »Wie fühlst du dich, Peas?«
    Das ist die Wahrheit.
    Mein Name ist Peas. Peas Friedrichs.
    Nicht nur, dass meine Mutter am Anfang der Schwangerschaft auf einen Geburtstechniker verzichtet hatte, ich bekam auch ausgerechnet die dämlichste Hebamme von Neustadt ab. Weil sie nicht richtig Englisch konnte, hat sie meinen Namen falsch eingetragen. Natürlich wollten meine Eltern mich »Peace« nennen, und sie versichern mir immer, dass es dasselbe ist, wenn ich mich beschwere.
    Aber das ist es nicht. »Peas« bedeutet nicht Frieden, sondern Erbsen. Ich meine, wie kann man sein Kind »Erbsen« nennen? Selbst aus Versehen dürfte so etwas nicht passieren. Wenn mich jemand fragt, der mich nicht kennt, behaupte ich natürlich immer, ich heiße Peace. Um mich von der anderen (hübschen, operierten) Peace in unserer Klasse zu unterscheiden, hat sich für mich die Abkürzung Pi eingebürgert – jedenfalls glauben das meine Mitschüler. Aber eigentlich war es ganz anders. Lucky hat mich schon immer Pi gerufen, schon damals im Kinderhort, als wir zusammen Türme gebaut und Papierfiguren gefaltet haben.
    »Wie fühlst du dich, Peas?«, fragte Doktor Händel. Er wusste natürlich, wie ich richtig hieß. Es stand auf allen Dokumenten. Zusammen mit allem anderen.
    »Gut«, sagte ich. »Natürlich geht es mir gut.«
    Doktor Händel leuchtete mir in die Augen und besah sich meine Zunge. »Ich hab das mit der Taube gehört. Hattest du Kontakt zu ihr?«
    »Nein, hatte ich nicht. Ich hab mich nicht mal aus dem Fenster gelehnt.«
    »Gut. Felix? Peas’ Welle bitte.«
    Felix, Dr. Händels Assistent, öffnete die große Schublade mit den Glasröhrchen und zupfte das mit der richtigen Nummer heraus. Die Flüssigkeit darin schimmerte braun, mit einem Stich ins Rötliche. Sie sah immer gleich aus. Und die Wirkung war immer dieselbe: Danach ging ich wie auf Watte.
    Jedes dieser Röhrchen enthielt sieben winzige Kapseln, die sich in einer vorherbestimmten Reihenfolge zersetzten. So wurde gewährleistet, dass man immer auf demselben Glückslevel blieb. Oder, in meinem Fall, auf dem immer gleichen Level trauriger Benommenheit.
    »Schwimm im Glücksstrom«, summte Felix, während Dr. Händel zur Tat schritt. »Schwimm auf der Welle, schwimm im Strom. Lass ihn niemals abreißen … lalala.«
    »Sie haben doch wohl nicht den Text vergessen?«, fragte der Doktor heiter, und wir lachten alle gemeinsam. Dieses Lied sogen wir mit der Muttermilch auf. Jeder in Neustadt kannte es auswendig.
    Ich schob meinen Ärmel hoch. Der kleine Pieks in den Oberarm war kaum zu spüren. Trotzdem zuckte ich oft innerlich davor zurück. Manchmal wünschte ich mir sogar, die Pubertät wäre endlich vorbei und ich würde wie die Erwachsenen das Pflaster bekommen, das für eine langsame, gleichmäßige Zufuhr von Glück sorgte. Die Erwachsenen wurden auch nicht mehr so häufig untersucht wie wir Jugendlichen, bei denen die optimale Dosierung alle paar Jahre neu festgelegt wurde.
    »Sonst irgendetwas Außergewöhnliches?«, erkundigte sich der Doktor. »Ihr nehmt zurzeit Shakespeare durch?«
    »Ja«, sagte ich. »Vom Mittelalter zur finsteren Moderne.«
    »Wilde Gefühle, hm?«
    »Ich muss noch einen Aufsatz darüber schreiben. Haben Sie einen Tipp für mich?«
    Er tupfte etwas auf meinen Arm und lehnte sich zurück. »Du könntest den Schwerpunkt auf das neue Zeitalter legen.«
    »Die Hoffnung auf den neuen Menschen«, ergänzte Felix.
    »Ja, vielleicht tue ich das.«
    Eigentlich war ich jetzt fertig, aber ich blieb auf dem Drehstuhl sitzen und fuhr damit vor und zurück.
    Doktor Händel sah auf. »Ist noch was?«
    Ich druckste ein bisschen herum. »Ähm – steht denn schon fest, wann mir ein Freund zugeteilt wird?«
    »Wann bist du siebzehn geworden?«
    »Im März.«
    Er wischte mit dem Daumen über seinen Bildschirm und schüttelte den Kopf. »Noch ist nichts eingetroffen. Mach dir mal keine Sorgen, manchmal dauert es eben länger, jemanden zu finden. Schließlich muss es passen,
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