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015 - Das Blutmal

015 - Das Blutmal

Titel: 015 - Das Blutmal
Autoren: Jens Lindberg
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Dirk Lodders balancierte mit seinem Stuhl herum und sah zur Decke.
    »Ich glaube«, sagte er, »das war um 1770. In Kempten. Stimmt’s? Mir ist jedenfalls so …«
    Professor Theo Idusch schüttelte den Kopf. Die schwerlidrigen, graublauen Augen unter den buschigen dunklen Brauen musterten belustigt die Studenten.
    »Wie Ihnen ist, Lodders, wird wohl irgendein Mädchen mehr interessieren. Nein, 1775 fand in Kempten der letzte Hexenprozess statt. Eine gewisse Anna Maria Schwägel war die Angeklagte. Eine arme Irre, die ein ganz feiner Herr zu Fall brachte, der dortige Fürstabt. Nach schrecklichen Folterungen gab sie zu, Unzucht mit dem Teufel getrieben zu haben.« Er lachte Lodders an. »Ihnen ist so! Mir ist auch so – nämlich zu warm.« Er stand auf, ging zu einem der Fenster, öffnete es und setzte sich auf die Fensterbank. »Gefragt war nach dem letzten Hexenprozess in Europa. Hat irgendwer ’ne blasse Ahnung?« Er wartete einen Moment, dann erklärte er: »Sieben Jahre später war das. 1782. Vor einem protestantischen Gericht im Schweizer Kanton Glarus fand der Prozess statt. Dieser brutale Justizmord an dem Kindermädchen Anna Göldi entfachte in Europa einen Sturm der Entrüstung.« Er bemerkte den fragenden Ausdruck im Gesicht von Anna Dori und nickte ihr zu. »Bitte?«
    Die Studentin erhob sich. »Warf man den Armen auch Buhlschaft – so hieß das ja wohl mit dem Teufel vor?«
    Ihre veilchenblauen Augen Spiegelten waches Interesse.
    »Nein. Die Anklage lautete anders. Sie sollte durch geheime Hexenkünste das Töchterchen ihres Dienstherrn krank gemacht haben – an Leib und an Seele.«
    Idusch stand wieder von der Fensterbank auf und kramte in der Tasche seines Gabardinejacketts herum. Als er die Hand herauszog und sie geöffnet den Studenten hinhielt, sahen alle auf einen vier Zentimeter langen rostigen Nagel.
    »Der Vater des Kindes hieß Tschudi. Er war Arzt und Richter und saß daher auch zu Gericht über das ratlose und entsetzte Mädchen, das schwer gefoltert wurde.« Idusch nahm den Nagel zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn hoch. »Solche Nägel soll Tschudis Tochter nach der Verhexung massenweise ausgespieen haben. Und das glaubte ein ganzer Kanton – 1782, mitten in Europa. Nun, ich erspare mir grässliche Einzelheiten.«
    Der Professor steckte den Nagel wieder in die Tasche. »Kommen wir jetzt zu den juristischen Fakten. Die bürgerliche Oberschicht in Glarus …«
    Anna Doris Augen schienen sich während des Vortrags dunkel zu verschleiern. Wie erstarrt wirkte sie in ihrem schwarzen T-Shirt. Nur manchmal wischte sie fahrig eine honigblonde Haarsträhne aus dem blassen Gesicht.
    Idusch sah auf seine Armbanduhr. »Noch Fragen zur Sache?«
    »Ja. Ich.«
    Anna Dori erhob sich. Ihre Bewegungen wirkten gequält und mechanisch.
    »Starb das Mädchen von Glarus?« fragte sie leise.
    »Sicher. Sagte ich das nicht?«
    »Wurde sie nach Hexenart verbrannt?«
    Die Stimme der Dori war kaum hörbar.
    Der Professor ging zur Tür. »Ich muss laufen. Nein, die unglückliche Anna Göldi wurde mit dem Schwert enthauptet.«
    Anna Dori schwankte leicht. Niemand bemerkte es. Der Raum leerte sich. Dunkle Wolken verhängten die Sonne.
    Das Mädchen riss wie unter Zwang den Mund auf, und ein kreischender, pfeifender Ton gellte durch den Raum. Ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten, und rund um ihren Hals bildete sich in Sekundenbruchteilen ein Reif aus blutroten, winzigen Perlen. Anna wand sich unter unerträglichen Schmerzen und glitt schließlich zu Boden. Mit ihren ausgestreckten Armen war Anna Dori jetzt ein menschliches Kreuz.
    Irgendwo knallte eine Tür zu. Anna Doris Lider flatterten, und allmählich kehrte Leben in sie zurück, aber keine Erinnerung. Mühsam krabbelte sie sich hoch und stützte sich auf den Tisch. Dann schleppte sie sich zum geöffneten Fenster und sog die Kühle ein, die der kalte Regenwind mit sich brachte.
    Hinter sich vernahm sie die vertraute Stimme ihres Freundes Veit Kloss.
    »Was machst du denn? Ich sitze in der Mensa und Warte und warte …«
    »Nichts.« Sie wandte sich nicht um. »Mädchen wird eben manchmal schwach.«
    Veit lachte. »Das will ich hoffen!«
    Er trat hinter sie, teilte im Nacken das blonde Haar und beugte sich vor.
    »He!« Er packte Anna bei den Schultern. »Wollte dich jemand erdrosseln?« Seine Stimme klang belustigt und besorgt zugleich. »Da auch! Sieh mal in den Spiegel!«
    Er bückte sich, hob Annas Tasche auf, suchte den kleinen runden Spiegel
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