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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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selbst
    »Danke« sagen. Meine Stimme klang leise und schwach.
    »Wasser.«
    Er löste die Fesseln an meinen Armen und über meiner Brust, nun waren nur noch meine Beine gefesselt. Dann schob er einen Arm unter meinen Nacken und zog mich in eine sitzende Position. Eine neue Art von Schmerz pulste durch meinen Kopf. Ich wagte mich nicht zu bewegen, sondern ließ teilnahmslos über mich ergehen, dass er mir die Arme hinter den Rücken legte und an den Handgelenken zusammenband – so fest, dass mir die Schnur ins Fleisch schnitt. Handelte es sich überhaupt um eine Schnur? Es fühlte sich härter an, wie eine Wäscheleine oder Draht.
    »Mach den Mund auf«, sagte er in seinem gedämpften Flüsterton. Ich tat, wie mir geheißen. Er schob einen Strohhalm unter die Kapuze und steckte ihn mir zwischen die Lippen.
    »Trink.«
    Das Wasser war lauwarm und hinterließ einen schalen Geschmack in meinem Mund.
    Er legte eine Hand auf meinen Nacken und begann ihn zu massieren. Ich saß da wie gelähmt. Ich durfte weder aufschreien noch irgendein anderes Geräusch machen. Ich durfte mich auch nicht übergeben. Seine Finger drückten sich in meine Haut.
    »Wo tut es weh?« fragte er.
    »Nirgends.« Meine Stimme war nur ein Flüstern.
    »Nirgends? Du wirst mich doch nicht anlügen?«
    Wut fegte durch meinen Kopf wie ein herrlicher, tosender Wind, stärker als die Angst. »Du widerliches Stück Scheiße!«, schrie ich mit der schrillen Stimme einer Wahnsinnigen. »Lass mich los, lass mich sofort los, ich bringe dich um, du wirst schon sehen …«
    Der Knebel wurde mir wieder in den Mund gerammt.
    »Du bringst mich um. Das ist gut. Das gefällt mir.«

    Lange Zeit konzentrierte ich mich nur aufs Atmen. Ich hatte von Menschen gehört, die sich in ihrem eigenen Körper eingesperrt fühlten wie in einem Gefängnis. Sie wurden von der Vorstellung gequält, niemals entkommen zu können. Mein Leben war nun reduziert auf das bisschen Luft, das durch meine Nasenlöcher strömte. Sollte mir diese Luftzufuhr auch noch abgeschnitten werden, würde ich sterben. Es gab solche Fälle. Leute wurden gefesselt und geknebelt, ohne dass ihre Entführer die Absicht hatten, sie umzubringen. Nur ein kleiner Fehler beim Binden – der Knebel zu nahe an der Nase –, und sie bekamen keine Luft mehr und starben.
    Ich zwang mich, gleichmäßig zu atmen, ein eins-zwei-drei, aus eins-zwei-drei. Ein, aus. In einem Film, einer Art Kriegsfilm, den ich einmal gesehen hatte, hatte sich ein supertaffer Soldat vor dem Feind in einem Fluß versteckt und nur durch einen einzigen Strohhalm geatmet. Der Gedanke, dass ich nun in der gleichen Situation war, ließ meine Brust schmerzen, und mein Atem ging wieder stoßweise. Ich musste mich beruhigen. Statt an den Soldaten zu denken und daran, was passiert wäre, wenn irgendetwas den Strohhalm verstopft hätte, versuchte ich an das Wasser des Flusses zu denken, das in der glitzernden Morgensonne so kühl und ruhig ausgesehen hatte, so träge und schön.
    In meinem Kopf floß das Wasser immer langsamer, bis es schließlich zum Stillstand kam. Ich stellte mir vor, wie die Oberfläche langsam zu Eis erstarrte, hart und klar wie Glas, so dass man die Fische darunter lautlos umherschwimmen sehen konnte. Ich konnte nicht anders.
    Ich sah mich durch das Eis einbrechen, sah mich darunter gefangen. Ich hatte irgendwo gelesen oder gehört, dass zwischen Eisfläche und Wasser eine dünne Luftschicht liegt, und dass man, wenn man einbricht und das Loch nicht mehr findet, diese Luft atmen kann. Aber dann?
    Vielleicht wäre es besser, einfach zu ertrinken. Vor dem Ertrinken hatte ich immer besondere Angst gehabt, bis ich irgendwann gelesen oder gehört hatte, dass es sich in Wirklichkeit um eine angenehme Todesart handelte. In diesem Moment erschien mir das sehr plausibel.
    Unangenehm und schrecklich war bloß der Versuch, nicht zu ertrinken. Angst ist der Versuch, dem Tod zu entrinnen.
    Sich dem Tod zu ergeben ist wie Einschlafen.
    Eins – zwei – drei, eins – zwei – drei. Langsam wurde ich ruhiger. Manche Menschen, wahrscheinlich mindestens zwei Prozent der Bevölkerung, wären schon vor Panik oder Luftmangel gestorben, wenn ihnen widerfahren wäre, was mir gerade passierte. Demnach schlug ich mich immerhin tapferer als so manch anderer.
    Ich lebte noch. Ich atmete.

    Jetzt lag ich wieder ausgestreckt, an Händen und Füßen gefesselt, einen Knebel im Mund und eine Kapuze über dem Kopf.
    Doch ich war nirgendwo mehr festgebunden. Ich
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