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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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wollte unsere Beziehung nicht damit beginnen, gleich alle meine Karten auf den Tisch zu legen.
    Ich hatte Angst, dich wieder zu verlieren.«
    »Und deswegen hast du unsere Beziehung lieber mit einer Lüge begonnen«, stellte ich fest.
    »Es war keine Lüge.«
    »Streng genommen nicht. Moralisch gesehen schon.«
    »Es tut mir Leid, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe«. Er setzte sich wieder neben mich, und ich hob die Hand, um über sein schönes weiches Haar zu streichen.

    »Und mir tut es Leid, dass ich einfach so davongelaufen bin«, sagte ich. »Hier, nimm eine Praline.«
    »Nein, danke.«
    Ich nahm eine. Karamell.
    »Es gibt inzwischen ein paar Worte, die für mich eine andere Bedeutung haben als beispielsweise für dich«, fuhr ich fort.
    »Dunkelheit. Stille. Winter.« Ich suchte eine weitere Praline aus. »Gedächtnis«, fügte ich hinzu und schob mir die Schokolade in den Mund.
    Ben griff nach meiner freien Hand. Mit der anderen hielt ich noch immer sein Holzei umklammert. Er drückte sie an sein Gesicht. »Ich liebe dich«, sagte er.
    »Ich glaube, ich war eine Weile wahnsinnig. Das ist jetzt vorbei.«
    »Du siehst auch anders aus«, stellte er fest.
    »Wunderschön.«
    »Ich fühle mich tatsächlich anders.«
    »Was wirst du jetzt tun?«
    »Ein bisschen Geld verdienen. Mir mein Haar wieder wachsen lassen. Nach Venedig reisen.«
    »Möchtest du weiter bei mir wohnen?«
    »Ben …«
    »Ich würde mich freuen.«
    »Nein. Ich meine, ich glaube nicht, dass du dich wirklich freuen würdest, auch wenn es sehr nett von dir ist, mir das anzubieten. Jedenfalls möchte ich es nicht.«
    »Verstehe.« Er legte meine Hand aufs Bett und strich dann behutsam über meine Finger, einen nach dem anderen, ohne mich anzusehen.
    »Du könntest mit mir ausgehen«, fuhr ich fort. »Wir könnten uns zu einem Rendezvous verabreden. Uns einen Film ansehen. Miteinander Cocktails trinken. Schön essen gehen.«
    Er starrte mich mit einem fragenden, unsicheren Blick an.
    Dann begann sich ein Lächeln auf seinem Gesicht auszubreiten. Die Haut um seine Augen verzog sich zu Lachfältchen. Er war wirklich ein netter Mann. Alles andere hatte ich mir nur eingebildet.
    »Es wird Frühling«, sagte ich. »Da kann alles Mögliche passieren. Wer weiß.«

    Noch jemand kam mich besuchen. Nun ja, natürlich kamen mich viele Leute besuchen, meine Freunde, einzeln oder in Gruppen, die meisten mit Blumen, manche mit Tränen in den Augen, andere verlegen kichernd. Ich umarmte liebe Menschen, bis mir die Rippen weh taten.
    Es war, als fände in meinem Zimmer eine endlose Party statt – die Party, die ich mir eigentlich gewünscht hatte, als ich das erste Mal von den Toten zurückgekehrt war, mit dem Ergebnis, das ich stattdessen in eine Welt des Schweigens und der Scham eingetreten war –, doch jetzt musste ich feststellen, dass ich auf meiner eigenen Party eine Fremde war, die den anderen dabei zusah, wie sie Spaß hatten, und sich zwang mitzulachen, auch wenn sie den Witz nicht so richtig verstand.
    Aber es kam noch jemand. Er klopfte höflich an, obwohl die Tür halb offen stand, und wartete, bis ich ihn aufforderte hereinzukommen.
    »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern«, sagte er.
    »Ich bin …«
    »Natürlich erinnere ich mich«, fiel ich ihm ins Wort.
    »Sie haben zu mir gesagt, ich hätte ein sehr gutes Gehirn.

    Sie sind Professor Mulligan, der Gedächtnismann, der einzige Mensch, den ich wirklich sehen möchte.«
    »Dabei habe ich Ihnen gar keine Blumen mitgebracht.«
    »Das ist mir sehr recht, ich werde nämlich heute Nachmittag entlassen.«
    »Wie geht es Ihnen?«
    »Gut.«
    »Sie haben sich tapfer geschlagen«, sagte er. Wie beim letzten Mal empfand ich seine Art als sehr wohltuend. Er gab mir ein gutes Gefühl.
    »Jack Cross hat mir erzählt, dass Sie damals für mich eingetreten sind.«
    »Na ja …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Sie haben die Besprechung unter Protest verlassen.«
    »Genutzt hat das leider auch nichts. Sagen Sie, ist Ihr Gedächtnis inzwischen zurückgekehrt?«
    »Nein. Nicht wirklich«, antwortete ich. »Manchmal habe ich das Gefühl, da ist etwas, ganz am Rand meines Bewusstseins, aber ich kriege es nicht zu fassen, und sobald ich den Kopf ein wenig drehe, ist es wieder weg.
    Manchmal kommt mir die verlorene Zeit wie eine Flutwelle vor, die über mir zusammengeschlagen ist und jetzt ganz langsam zurückebbt. So unendlich langsam, dass ich es gar nicht richtig wahrnehmen kann. Aber
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