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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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davon.«
    Dann waren die Namen also nach wie vor nur Silben, die mir in der Dunkelheit zugeflüstert worden waren.
    »Kümmert sich jemand um Sie?«, fragte er.
    »Mehrere Ärzte, aber mir fehlt nichts.«
    »Nein – ich habe gemeint, jemand, der Ihnen hilft. Mit dem Sie reden können. Nach allem, was Sie durchgemacht haben.«
    »Ich brauche keine Hilfe.«
    »Abbie, ich war dort, ich habe gesehen, was von ihm übrig ist.«
    »Sie meinen, ich müsste deswegen traumatisiert sein?«
    »Nun ja …«
    »Ich habe ihm die Augen ausgestochen.« Ich hielt beide Hände hoch und starrte auf meine Finger. »Ich habe meine Daumen in seine Augäpfel gedrückt und ihm auf diese Weise die Augen ausgestochen. Das war kein traumatisches Erlebnis, Jack. Das traumatische Erlebnis war die Entführung. In einem Keller gefangen gehalten zu werden, eine Kapuze über dem Kopf, einen Knebel im Mund und in der Dunkelheit von Augen angestarrt, von Händen berührt zu werden. Das war traumatisch. Zu wissen, dass ich sterben würde und niemand mir helfen konnte. Das war traumatisch. Ihm zu entkommen und dann herauszufinden, dass niemand mir glaubte. Von neuem in Gefahr zu sein, wo ich doch eigentlich in Sicherheit hätte sein sollen. Das war traumatisch. Das andere nicht. Das war lediglich Notwehr. Mein letzter verzweifelter Versuch, am Leben zu bleiben. Nein, ich glaube nicht, dass ich noch Hilfe brauche. Vielen Dank.«
    Während meines Monologs war er zurückgesunken, als würde ich mit den Fäusten auf ihn eintrommeln. Als ich fertig war, nickte er und ging.

    Ben kam in der Mittagspause – seiner Mittagspause. Im Krankenhaus ist schon gegen halb zwölf Mittagszeit, und das Abendessen gibt es um fünf. Danach zieht sich der Abend endlos hin, bis es Nacht wird, dann zieht sich die Nacht endlos hin, bis es endlich wieder Morgen wird. Er beugte sich über mich, um mir mit kalten Lippen einen nervösen Kuss auf die Wange zu drücken. Er trug wieder seinen wundervollen langen Mantel. Verlegen hielt er mir eine Schachtel Pralinen hin, die ich wortlos entgegennahm und auf mein Kissen legte. Er setzte sich, und wir sahen uns an.
    »Ich habe dir noch etwas mitgebracht«, sagte er schließlich und zog ein glattes hölzernes Oval aus seiner Tasche, Es war honigfarben und von dunkleren Linien durchzogen. »Hainbuche«, erklärte er. »Ein ganz besonderes Holz. Ich habe es gestern Abend in meiner Werkstatt für dich gemacht, während ich auf dich gewartete habe. Ich habe so sehr gehofft, dass du doch noch kommen würdest.«
    Ich schloss meine Faust um das Holz. »Es ist wunderschön. Vielen Dank.«
    »Möchtest du schon darüber sprechen?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Kannst du dich inzwischen an irgendwas erinnern? Ist dein Gedächtnis zurückgekehrt?«
    »Nein.«
    Einen Moment schwiegen wir beide.
    »Das mit Jo tut mir Leid«, fügte ich dann hinzu. »Sie ist tot.«
    »Das weißt du doch gar nicht. Jedenfalls nicht mit Sicherheit.«
    »Sie ist tot, Ben.«
    Er stand auf, trat an das kleine, geschlossene Fenster und blickte starr über die Hausdächer hinweg in den blauen Himmel. Er verharrte ein paar Minuten reglos. Ich nehme an, er weinte.
    »Abbie«, sagte er, als er sich wieder dem Bett zuwandte,

    »ich war halb wahnsinnig vor Sorge um dich. Ich wollte dir helfen. Ich wollte nicht, dass du das allein durchstehen musst. Egal, was du wegen mir und Jo empfunden hast, du hättest nicht einfach davonlaufen sollen, als würdest du mich für den Mörder halten. Ich weiß, dass du durcheinander warst und böse auf mich. Das verstehe ich ja auch. Aber du hättest sterben können. Und es war nicht richtig, Abbie«, sagte er. »Es war nicht in Ordnung.«
    »Ben.«
    »Okay, okay … hör zu, das wegen mir und Jo tut mir Leid – zumindest tut es mir Leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast. Was aber nicht heißen soll, dass es mir Leid tut, dass ich eine Affäre mit ihr hatte. Das ist eine andere Geschichte, und wenn du möchtest, werde ich sie dir eines Tages erzählen. Es soll auch nicht heißen, dass ich mein Schweigen in diesem Punkt inzwischen für völlig falsch halte. Wir beide, du und ich, haben am verkehrten Ende angefangen. Unserer Beziehung fehlte die übliche Reihenfolge. Wäre alles ganz normal gelaufen, hätten wir uns langsam kennen gelernt und einander irgendwann unsere Vergangenheit gebeichtet, aber wir kannten uns noch kaum, und plötzlich warst du bei mir im Haus und hattest Angst um dein Leben, und alles war so hektisch und unsicher. Ich
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