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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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herumsausten, andere Ärzte mit Klemmbrettern und müden Gesichtern, andere Polizisten, die mir nervöse Blicke zuwarfen und gleich wieder wegsahen, aber immer noch derselbe alte Jack Cross, der mit gebeugten Schulter neben meinem Bett saß und dabei selbst ein bisschen wie ein Kranker aussah. Er hatte die Hand an die Wange gelegt, als hätte er Zahnschmerzen, und starrte mich an, als würde ich ihm Angst machen.
    »Hallo, Jack«, sagte ich.
    »Abbie …«, begann er, brach aber gleich wieder ab.
    Seine Hand verlagerte sich ein Stück, so dass sie nun seinen Mund bedeckte. Ich wartete. Schließlich wagte er einen zweiten Anlauf. »Fühlen Sie sich einigermaßen?«
    »Ja«, antwortete ich.
    »Die Ärzte haben gesagt …«
    »Es geht mir gut. Sie wollen mich nur noch ein paar Tage zur Beobachtung dabehalten.«
    »Das überrascht mich nicht, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, ich …« Er rutschte auf seinem Stuhl herum und rieb sich die Augen. Dann setzte er sich aufrechter hin, holte tief Luft und sah mir direkt in die Augen. »Wir hatten Unrecht. Es gibt dafür keine Entschuldigung.« Ich sah ihm an, dass er trotzdem einen Moment versucht war, all die Gründe und Entschuldigungen vorzubringen, sie dann aber hinunterschluckte.
    »Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie das wirklich getan haben.« Er ließ sich wieder zurücksinken und legte wie vorher die Hand ans Gesicht. »Was für ein Chaos, von Anfang bis Ende. Sie können uns alle in die Pfanne hauen.«
    »Ist er tot?«
    »Nein, er ist in einer Spezialklinik.«
    »Oh.«
    »Wissen Sie, was Sie mit ihm gemacht haben?«
    »Ja.«
    »Seine Augen.« Er sagte das ganz leise. Mir war nicht recht klar, ob er mich dabei mit Bewunderung, Entsetzen oder Abscheu ansah. »Sie haben sie ihm halb ins Gehirn geschoben. Ich meine … lieber Himmel!«
    »Mit den Daumen«, sagte ich.
    »Mein Gott, Abbie, bestimmt sind Sie …«
    »Ich hatte nichts anderes.«
    »Wir müssen später eine formelle Aussage von Ihnen aufnehmen.«
    »Natürlich. Wie geht es Sarah?«
    »Sarah Maginnis steht unter Schock und befindet sich in einem Zustand der Unterernährung. Wie Sie damals. Es wird ihr bald wieder besser gehen. Möchten Sie sie sehen?«
    Ich überlegte einen Moment. »Nein.«
    »Es tut ihr sehr Leid, Abbie.«
    »Sie wissen Bescheid?«
    »Sie kann über nichts anderes reden.«
    Ich zuckte mit den Achseln.
    »Vielleicht war es Glück für mich«, sagte ich. »Er wollte sie töten. Er hatte seinen Schal abgenommen. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wäre ich nur dagestanden und hätte ihm dabei zugesehen. Niemand hätte es mir zum Vorwurf machen können, oder? Die arme, traumatisierte Abbie.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie einfach nur so dagestanden wären.«
    »Gibt es etwas Neues in Sachen Jo? Hat er etwas gesagt?«
    »Ich denke, er wird noch eine ganze Weile nichts sagen.
    Was Miss Hoopers Verschwinden betrifft, beginnen wir gerade mit unseren Ermittlungen.«
    »Sie kommen zu spät.«

    Er hob die Hände, ließ sie dann aber resigniert auf seinen Schoß zurückfallen. Ein paar Minuten lang saßen wir beide schweigend da. Eine Krankenschwester kam herein und sagte, jemand habe an der Rezeption Blumen für mich abgegeben. Sie legte einen Strauß feuchter Anemonen auf mein Schränkchen. Ich griff danach und roch an den Blumen. Sie hatten Wassertropfen auf ihren leuchtenden Blütenblättern und dufteten nach Frische. Ich legte sie zurück. Cross’ Gesicht wirkte vor Erschöpfung ganz grau.
    »Sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen«, bat ich ihn.
    »Wir sind erst ganz am Anfang. Sein Name ist George Ronald Sheppy. Er ist einundfünfzig Jahre alt. Er ist vorher nur ein einziges Mal straffällig geworden, wegen Tierquälerei. Die Sache liegt Jahre zurück. Er ist mit einer kleinen Strafe davongekommen. Recht viel mehr wissen wir noch nicht. Wir haben mit einigen Nachbarn von ihm gesprochen. Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen – ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem. Möbelpacker, Volksfestmechaniker, Lastwagenfahrer. Alles nicht sehr aufschlussreich.«
    »Und die anderen Frauen?«
    »Die anderen Namen«, berichtigte mich Cross.
    »Natürlich werden wir auch in diese Richtung weiter ermitteln, vor allem jetzt – wir werden überprüfen, ob vermisste Frauen aus den Gegenden, in denen er gearbeitet hat, in Frage kommen. Vielleicht, wenn wir mehr wissen
    …« Er zuckte resigniert mit den Achseln. »Besser, Sie erwarten sich nicht zu viel
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