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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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ich es schaffen, mich an ihn heranzuschleichen, ohne dass er mich hörte? Konnte ich ihn überraschen? Unwahrscheinlich. Nein, meine einzige Chance war zu warten und zu hoffen, dass er irgendwann wieder gehen würde und ich dadurch meine Chance bekäme.
    Die Vorstellung, weiterhin reglos im Schatten verharren zu müssen, weckte in mir den Wunsch, mich auf den kalten Steinboden zu werfen und loszuheulen. Ich fühlte mich so schrecklich müde, hätte so gern geschlafen. Ich wollte nicht sterben, doch ich war trotzdem nicht weit davon entfernt, mir zu wünschen, tot zu sein. Zumindest sind die Toten von Schmerz und Angst erlöst. Worin lag der Sinn, noch länger dagegen anzukämpfen?
    Aber dann, fast ohne dass ich selbst es merkte, gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Während ich ihm zusah, wie er geschäftig herumhantierte und dieses arme Mädchen völlig verschnürt auf den Heuballen saß, kam es mir allmählich vor, als würde ich mich selbst betrachten.
    Ich erinnerte mich an die Tage, als ich diejenige mit dem Draht um den Hals und der Kapuze über dem Kopf gewesen war. Ich hatte dort gesessen, die Zehen über dem Abgrund, und darauf gewartet, getötet zu werden, und ich wusste wieder genau, wie sich das angefühlt hatte. Damals hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, all das zu überleben.
    Ich hatte nur noch um eine Chance gebetet, auf ihn losgehen zu können, ihm ein Auge auszukratzen, ihm etwas Schlimmes anzutun, bevor ich starb. Nun war diese Chance gekommen. Ich konnte ihn nicht überwältigen, das wäre zu viel verlangt gewesen, aber wenn er mich fand, konnte ich ihm zumindest Schaden zufügen. Ich brauchte unbedingt eine Waffe. Wie dumm, dass ich nichts eingesteckt hatte. In dem Moment hätte ich ohne Zögern alles, was ich je besessen hatte, gegen ein Küchenmesser oder eine Dose Reizgas eingetauscht. Doch ich zwang mich, nicht zu hadern. Ich war hier. Ich hatte keine Waffe.
    Alles, was ich in die Hände bekam, war ein Gewinn.
    Ich kauerte mich auf den Boden und begann in der Dunkelheit herumzutasten, ganz vorsichtig, um nirgendwo dagegenzustoßen. Meine rechte Hand berührte etwas Kaltes. Eine Metalldose, der Größe nach eine Farbdose.
    Ich stupste versuchsweise dagegen. Sie war leer und somit nutzlos für mich. Daneben schlossen sich meine Finger um einen Griff. Er fühlte sich vielversprechender an, entpuppte sich aber als ein Pinsel mit steifen, verklebten Borsten. Sonst gab es nichts. Keinen Meißel, keinen Schraubenzieher, keine Metallstange. Nichts Spitzes, was ich umklammern konnte. Als ich mich wieder aufrichtete, knackten meine Knie. Wie war es möglich, dass er das nicht gehört hatte? Ich musste einfach warten, bis er weg war. Wenn er weg war, konnte ich hinauslaufen und die Polizei anrufen. Sarah befreien.
    Der Mann bereitete etwas vor. Ich konnte nicht genau ausmachen, was er tat, hörte ihn aber leise vor sich hinmurmeln. Er erinnerte mich an meinen Vater, wie er an den Wochenenden war, den einzigen glücklichen Zeiten seines Lebens, wenn er den Gartenzaun reparierte, einen Fensterrahmen strich oder ein Bücherregal zusammenbaute.
    Der Mann lockerte die Drahtschlinge um Sarahs Hals.
    Ach ja, der Kübel. Die Gestalt mit der Kapuze wurde von den Heuballen gehoben, ihre Hose heruntergezogen.
    Während sie sich über den Kübel kauerte, hatte er die Hände an ihrem Hals. Ich hörte es im Kübel plätschern.
    »Gut gemacht, meine Schöne«, murmelte er, während er ihr die Hose wieder hochzog.

    Mit lässiger, geübter Hand brachte er die Drahtschlinge um ihren Hals wieder so an, dass sie völlig hilflos war, legte dabei aber eine gewisse Zärtlichkeit an den Tag. Er schien sie mehr zu mögen, als er mich gemocht hatte.
    Mich hatte er nie seine Schöne genannt, sein Ton war stets abweisend gewesen. Er hatte versucht, meinen Willen zu brechen.
    »Du hast abgenommen«, stellte er fest. »Ich glaube, wir sind so weit. Du bist wundervoll, Sarah. Einfach wundervoll. Nicht wie die anderen.«
    Er trat einen Schritt zurück, damit er sie besser betrachten konnte. Ich hörte ein metallisches, kratzendes Geräusch, dann flackerte plötzlich eine Flamme hoch. Er hatte die Laterne angezündet. Licht flutete durch den Raum. Erschrocken wich ich noch weiter hinter die Maschine zurück. Er musterte Sarah mit wohlgefälligem Gemurmel, befühlte ihre nackten Arme, ließ seine Finger an ihnen entlanggleiten, wie man ein Pferd befühlte, um zu sehen, ob sein Fieber nachgelassen hatte. Schließlich stellte er die
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