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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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werfen, war meine erste Reaktion: Das muss ein Irrtum sein. Solange er nur eine Stimme aus der Dunkelheit gewesen war, hatte ich ihn mir riesengroß und mächtig vorgestellt, wie ein Monstrum. Er war der finstere Gott gewesen, der mich bestrafen oder belohnen konnte, mich fütterte oder hungern ließ und der darüber entschied, ob ich leben oder sterben würde.
    Nun erhaschte ich hin und wieder einen Blick auf ihn, wenn er in das schwache Mondlicht eintauchte, das durch das offen stehende Tor hereinfiel. Ich sah nur Teile von ihm, einen dicken Mantel und strähniges, teilweise ergrautes Haar, das er über seinen Glatzenansatz gekämmt trug. Von seinem Gesicht sah ich fast gar nichts. Es war größtenteils von etwas bedeckt, das wie der geblümte Schal einer alten Frau aussah. Ein unvoreingenommener Beobachter hätte es vielleicht für einen Schutz gegen Staub gehalten, ich aber wusste, was es war. Damit verfälschte er seine Stimme. Leise vor sich hinmurmelnd trug er einen Metalleimer herein, den er mit lautem Scheppern auf den Boden abstellte. Es gelang mir einfach nicht, meine Erinnerungen mit diesem schlurfenden, heruntergekommenen, unscheinbaren Mann in Einklang zu bringen. Wäre er in mein altes Büro gekommen, um dort die Fenster zu putzen oder den Boden zu fegen, hätte ich ihn vermutlich völlig übersehen. Er redete mit Sarah, als wäre sie ein etwas störrisches Schwein, dessen Stall ausgemistet werden musste.
    »Na, wie geht’s dir?«, fragte er, während er neben ihr mit irgendwelchen Dingen hantierte, die ich nicht sehen konnte.
    »Tut mir Leid, dass ich so lange weg war. Hatte viel zu tun. Dafür werde ich jetzt eine Weile hier bleiben. Ich habe mir extra Zeit genommen für dich.«
    Er ging wieder hinaus, und für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Flucht zu wagen, doch er kam sofort zurück und stellte etwas Rechteckiges auf dem Boden ab, in dem es schepperte, wahrscheinlich einen Werkzeugkasten. Immer wieder ging er auf den Hof und trug oder zerrte von dort Dinge herein. Das meiste davon konnte ich nicht erkennen, weil es so dunkel war, aber ich identifizierte eine Laterne, eine Lötlampe und mehrere leere Kunststofftaschen, wie sie viele für ihre Sportsachen verwendeten. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter reglos in der Dunkelheit zu kauern und möglichst leise zu atmen. Jedes Mal, wenn ich die Position wechselte, raschelte das Stroh unter meinen Füßen. Auch meine Schluckgeräusche erschienen mir schrecklich laut.
    Bestimmt hörte er das Donnern meines Herzens, das Rauschen meines Blutes, den Schrei in meinem Hals?

    Während einer seiner kurzen Abwesenheiten griff ich in meine Tasche, und meine Finger schlossen sich um Bens Mobiltelefon. Langsam, ganz langsam zog ich es heraus und hielt es direkt unter mein Gesicht, wobei ich es, so gut es ging, mit der Hand abschirmte. Ich drückte einen Knopf, um das winzige Display zu beleuchten. Das Gerät gab einen leisen Piepton von sich. Für mich klang er laut wie Glockengeläut. Hatte er ihn gehört? Ein Gespräch kam nicht in Frage, doch vielleicht konnte ich eine Nachricht absenden oder eine Notrufnummer anwählen?
    Ich starrte auf das Display. Würde er das Licht in der Dunkelheit nicht sofort bemerken? In der rechten oberen Ecke waren drei gestrichelte Linien zu sehen, die anzeigten, dass der Akku fast voll war. In der linken Ecke hätten eigentlich vier blütenförmige Symbole die Stärke des Empfangs anzeigen sollen, doch es war nur eine einzige Blüte dort, was bedeutete, dass ich überhaupt keinen Empfang hatte. Keine Chance. Ich konnte weder telefonieren noch eine SMS versenden und auch keine Anrufe oder Nachrichten empfangen. Ich schob das Telefon zurück in meine Tasche.
    Am liebsten hätte ich losgeheult. Sofort nachdem ich Sarah entdeckt hatte, hätte ich nach draußen laufen und um Hilfe rufen sollen. Es wäre so einfach gewesen.
    Stattdessen war ich mir selbst zurück in die Falle gefolgt.
    Ich war wirklich mit Dummheit geschlagen. Mutlos blickte ich zu der Stelle hinüber, wo sich seine Silhouette von dem schwachen Licht abhob, das von draußen hereinfiel.
    Im Geiste wog ich die Optionen gegeneinander ab. Ich konnte versuchen, durch die Tür zu entkommen, um Hilfe zu holen. Ein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Er stand direkt neben dem Tor. Selbst wenn es mir gelang, ihn zu überraschen, hatte ich keine Chance. Ich konnte auf ihn losgehen, ihm eine über den Kopf ziehen, ihn vielleicht sogar k.o. schlagen. Würde

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