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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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verstanden. Mir gesagt, was ich zu tun habe. Niemand hat mich jemals so verstanden wie du. Ich möchte dich auch verstehen.«
    Er lächelte.
    »Du bist verrückt, weißt du das?«
    »Das macht nichts«, antwortete ich. »Ich bin hier. In deiner Hand. Um eines möchte ich dich allerdings bitten.«
    Ich trat wieder einen Schritt vor. Nun stand ich schon fast vor ihm.
    »Und das wäre?«
    »Die ganze Zeit, die wir zusammen waren, warst du für mich nur diese Stimme in der Dunkelheit, die sich um mich kümmerte, mich fütterte. Ich habe die ganze Zeit über dich nachgedacht, mich gefragt, wie du wohl bist.
    Erlaubst du mir, dass ich dich ein einziges Mal küsse?«
    Ich ging die letzten paar Schritte, beugte mich ein Stück vor. Er roch unangenehm, süß und chemisch. »Nur ein einziges Mal. Das schadet doch nichts.« Aus der Nähe betrachtet, wirkte sein Gesicht sehr gewöhnlich. Es hatte nichts Beängstigendes an sich, nichts Besonderes.
    »Schau«, sagte ich und hielt ihm meine leeren Hände hin,
    »ich möchte dich nur ein einziges Mal berühren.« Als ich mich zu ihm vorbeugte, stellte ich ihn mir nicht als Menschen vor, sondern als Schafskopf. Das war entscheidend. Ich stellte mir den Kopf eines toten Schafs vor, der vom Körper abgetrennt worden war. »Nur einen einzigen Kuss. Wir sind beide einsam. So einsam. Nur einen.« Sanft berührte ich seine Lippen mit meinen. Nun hatte ich es fast geschafft. Fast. Ganz langsam. »Darauf habe ich so lange gewartet.« Während ich ihn ein weiteres Mal küsste, hob ich die Hände an sein Gesicht, berührte seine Schläfen ganz sanft mit meinen Handflächen. Warte.
    Warte. Der Kopf eines toten Schafs. Zunge am fauligen Zahn. Ich wich mit meinem Gesicht ein Stück zurück, sah ihn einen Moment wehmütig an und schob ihm dann meine Daumen in die Augen. Es waren bloß die Augen im Schädel eines toten Schafs. Eines toten Schafs, das mich in der Dunkelheit festgehalten und gequält hatte. Ich wusste, dass meine Daumennägel sehr lang waren.
    Während ich meine übrigen Finger wie Krallen in seine Schläfen schlug, bohrte ich ihm diese Nägel in die Augen.
    Mit Interesse registrierte ich, dass meine Daumen, nachdem sie sich tief in seinen Kopf gedrückt und in seinen Augenhöhlen herumgekratzt hatten, mit einer Flüssigkeit bedeckt waren, einer wässrigen Flüssigkeit, durchzogen von gelben Schlieren, die wie Eiter aussahen.
    Ich hatte damit gerechnet, dass er mich packen und in Stücke reißen würde. Dass er mich töten würde. Aber er fasste mich nicht mal an. Ich konnte einfach zurücktreten und meine schmierigen Daumen herausziehen. Tief aus seinem Inneren drang ein seltsamer Schrei, wie das Heulen eines Tiers. Er riss die Hand an den Kopf, sein Körper klappte in sich zusammen, und einen Moment später lag er sabbernd und wimmernd vor mir auf dem Boden. Ich trat einen Schritt zurück, außer Reichweite dieser winselnden Kreatur, die sich jetzt wie eine Larve auf dem Boden wand. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir damit die Daumen ab. Dann holte ich ein paarmal tief Luft, saugte meine Lungen voll Sauerstoff.
    Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende, die es wieder an die Wasseroberfläche geschafft hatte und nun die wundervolle, saubere, lebenspendende Luft einatmete.

    29
    Der Mond war immer noch da, wie die Sterne auch. Alles glitzerte vor Frost. Eine Welt aus Eis und Schnee und Stille. Die Kälte schnitt mir ins Gesicht. Ich atmete tief ein, spürte, wie die saubere Luft in meinen Mund und meinen Hals hinunterströmte. Als ich wieder ausatmete, blieb mein Atem als weiße Wolke in der Luft hängen.
    »Oh-oh-ohhh, nu-nu.«
    Die Geräusche, die Sarah ausstieß, klangen fast wie Tierlaute, ein mitleiderregender, schriller Wirrwarr aus Silben. Für mich ergaben sie keinen Sinn. Ich legte den Arm noch fester um ihre Schultern, um sie zu stützen.
    Kraftlos hing sie an mir, weiter vor sich hinwimmernd. Ihr Körper fühlte sich so klein und schmächtig an, dass ich mich fragte, wie alt sie wohl war. Sie sah aus wie ein rotznasiges, ungewaschenes kleines Mädchen. Erschöpft ließ sie den Kopf auf meine Brust sinken. Ich konnte ihr fettiges Haar und ihren sauren Schweiß riechen.
    Ich zog Bens Handy aus meiner Jackentasche.
    Inzwischen hatte es wieder Empfang. Ich wählte die Notrufnummer.
    »Welchen Service benötigen Sie?«, fragte eine Frauenstimme. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
    Eigentlich alle, bis auf die Feuerwehr. Ich erklärte, es handle
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