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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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sich um schlimme Verletzungen und ein schlimmes Verbrechen. Wir würden zwei Krankenwagen benötigen und die Polizei.
    Nachdem ich das Telefon wieder verstaut hatte, betrachtete ich Sarah. Ihr kleines, leicht flaches Gesicht war gespenstisch bleich, ihre gesamte Stirn mit Pickeln übersät. Ihr Mund war geschwollen, die Lippen zu einem stummen Ausruf des Entsetzens verzogen. Sie sah wie ein gefangenes Tier aus. Dort, wo der Draht in ihren Hals eingeschnitten hatte, konnte ich einen blauen Streifen ausmachen. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie trug nur ein langärmeliges T-Shirt und eine Baumwollhose, dazu dicke Socken, aber keine Schuhe.
    »Moment.« Ich zog meine Steppjacke aus und legte sie um ihre Schultern. Ich klappte den Kragen hoch, damit auch ihr Gesicht vor der Kälte geschützt war. »Du hast mein Shirt an«, stellte ich fest und legte von neuem den Arm um sie.
    Ein Laut entrang sich ihrem zitternden Körper. Offenbar wollte sie mir etwas sagen, aber ich konnte sie nicht verstehen.
    »Sie werden gleich hier sein«, versuchte ich sie zu beruhigen.
    »Du bist jetzt in Sicherheit.«
    »Es tut mir so Leid!«, stieß sie hervor.
    »Ach, das.«
    »Das war nicht ich. Nicht ich. Ich war wahnsinnig vor Angst. Ich dachte, ich müsste sterben.« Sie fing zu weinen an.
    »Ich wusste, dass ich gleich sterben würde. Ich war wahnsinnig!«
    »Ja«, antwortete ich. »Ich war genauso wahnsinnig.
    Aber jetzt bin ich es nicht mehr.«

    Die Wagen kamen mit Blaulicht und Sirene den Hügel herunter. Zwei Ambulanzen und zwei Polizeiwagen.
    Türen schwangen auf. Sanitäter sprangen heraus und eilten auf uns zu. Gesichter blickten auf uns herunter, Hände schoben uns auseinander. Tragbahren wurden auf dem Boden abgestellt. Ich schickte ein paar von den Männern nach drinnen. Neben mir hörte ich Sarah weiterweinen, bis nur noch ein raues, heiseres Schluchzen aus ihrer Kehle drang. Mehrere Stimmen redeten beruhigend auf sie ein.
    Das Wort »Mummy« schnitt durch das Stimmengewirr.
    »Wo ist Mummy?«
    Jemand legte mir eine Decke um die Schultern.
    »Mir fehlt nichts«, erklärte ich.
    »So, nun legen Sie sich bitte hier drauf.«
    »Ich kann gehen.«
    Drinnen wurden Rufe laut. Einer von den Männern in grünen Overalls kam herausgerannt und flüsterte einem jungen Polizisten etwas zu.
    »Lieber Himmel!« Der Polizist starrte mich an.
    »Er ist ein Killer«, sagte ich.
    »Ein Killer?«
    »Jetzt sind wir vor ihm sicher. Er kann nichts mehr sehen. Er ist nicht mehr gefährlich.«
    »Nun wollen wir Sie in den Krankenwagen bringen, meine Liebe.« Der Mann bemühte sich um einen beruhigenden Ton, als wäre ich vor Schock hysterisch.
    »Sie sollten Detective Inspector Jack Cross informieren«, fuhr ich fort. »Mein Name ist Abigail Devereaux. Abbie. Ich habe ihm die Augen ausgestochen.
    Er wird mich nie wieder ansehen.«

    Sie brachten Sarah als Erste weg. Ich kletterte in den zweiten Krankenwagen, noch immer in die Decke gehüllt.
    Zwei Leute stiegen nach mir ein, ein Sanitäter und eine Polizeibeamtin. Ich hörte noch, dass der Geräuschpegel hinter mir anschwoll, Stimmen hektisch durcheinanderriefen, ein dritter Krankenwagen mit heulender Sirene die Straße herunterkam, doch darum musste ich mich nicht mehr kümmern. Ich ließ mich auf meinem Sitz zurücksinken und schloss die Augen, nicht weil ich müde war – das war ich nicht, ich fühlte mich sogar sehr wach und klar im Kopf, als hätte ich lange und gut geschlafen –, sondern, um die Lichter und das Durcheinander um mich herum auszublenden und all den Fragen ein Ende zu setzen.

    Ich fühlte mich so sauber und warm. Mein Haar war frisch gewaschen, meine Haut geschrubbt, meine Finger- und Zehennägel kurz geschnitten. Ich hatte mir dreimal die Zähne geputzt und anschließend mit einer grünen Flüssigkeit gegurgelt, dank der sich mein Atem bis in meine Lungen hinunter minzfrisch anfühlte. Ich saß im Bett, bekleidet mit einem lächerlichen rosafarbenen Nachthemd, zugedeckt mit einem steifen, hygienischen Laken und mehreren Schichten dünner, kratziger Decken, trank Tee und aß Toast. Drei Tassen siedend heißen, stark gezuckerten Tee und ein Stück schlaffen weißen Toast mit Butter. Oder Margarine, das war wahrscheinlicher. Im Krankenhaus bekommt man keine Butter. Auf dem Schränkchen neben meinem Bett stand ein Plastikkrug mit Narzissen.
    Ein anderes Krankenhaus, ein anderes Zimmer, eine andere Aussicht, andere Krankenschwestern, die mit Thermometern, Bettpfannen und Teewagen
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