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Der Kuss des Greifen

Der Kuss des Greifen

Titel: Der Kuss des Greifen
Autoren: Sharon Morgan
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Kapitel 1
     

     
     
    Dem Tod trat man lächelnd entgegen.
    Die Worte des alten Spartaners Leonidas waren kein Trost für Lysandra, die auszog, um einen Drachen zu töten – oder, was wahrscheinlicher war, von diesem getötet zu werden. Blicke voll Mitleid spürte sie auf sich, als sie durch die gepflasterten Straßen Delphoís ging – dem Tod entgegen.
    Menschen tuschelten und starrten unverhohlen zu ihr herüber.
    Ein alter Mann schüttelte den haarlosen Kopf. »Der Junge muss dem Irrsinn verfallen sein.«
    »Ist das nicht Lysandros, der Ziehsohn der Nerea? Weiß sie davon?«, fragte eine verschleierte Frau hinter vorgehaltener Hand.
    Eine andere beugte sich zu dieser vor. »Noch dazu ohne Rüstung. Der kann nur des Wahnsinns sein.«
    »Ihm wird keine passen, so dünn, wie er ist. Außerdem hat sie all den anderen vor ihm auch nichts genutzt …«
    »Was für ein hübscher Bursche. So jung und bald schon tot. Ein Jammer!« Eine ältere Frau niedriger Herkunft mit fadenscheinigem hellbeigen Gewand schüttelte ungläubig den Kopf.
    Ein junger Mann lachte sie aus. »Ach, redet keinen Unsinn! Jeder weiß, dass Lysandros so furchtsam ist, dass er vor seinem eigenen Schatten flieht. Der geht nie und nimmer zur Drachenhöhle hinauf. Dies ist ein einziger Betrug!«
    Lysandra versuchte die Worte zu ignorieren. Es waren allesamt Einheimische, denn vor den Fremden versuchte man, die Bedrohung durch das wiederauferstandene Ungeheuer Python geheim zu halten.
    Lysandra, die seit frühester Kindheit als Junge verkleidet worden war, wollte endlich die Tat eines Mannes vollbringen, wenn sie schon niemals eine Frau würde sein können. Sie schritt vorbei an den Menschen, die auf den von Oliven- und Pinienbäumen gesäumten Steinbänken saßen. Flammen schlugen aus Feuerschalen empor und entließen feine Gespinste aus Rauch in die Höhe des Firmaments, von dem die Nachmittagssonne gleißend zu ihr herunterstrahlte.
    Da sie schwitzte, teilte Lysandra mit einer Hand ihr schulterlanges dunkelbraunes Lockenhaar im Nacken. Sie durchschritt das dem zweigipfligen Berge Parnassós zugewandte Tor in der Stadtmauer von Delphoí. Steinig und gefährlich wanden sich die Straßen von Hellas durch eine nicht weniger gefährliche und unwirtliche Gegend voller karger Felsen, verdorrtem Gestrüpp und tödlichen Schluchten. Vereinzelt wuchsen Lorbeer-, Erdbeer- und jene Olivenbäume, welche das beste Öl des ganzen Landes lieferten.
    Der Buchstabe Lambda befand sich auf dem Schild, den Lysandra vom alten Leonidas hatte. So trat sie paradoxerweise mit dem Schildzeichen der unbeliebten Spartaner gegen das Böse an, das Delphoís Untergang verhieß.
    Allein die Verzweiflung trieb sie voran – weniger die Aussicht auf den Lohn von einhundertvierzig delphoíschen Drachmen. Sie tat es für sich selbst, wollte endlich den Hänseleien ihres Ziehbruders Damasos entkommen und den Schmähreden der anderen Männer, die sie für einen Schwächling hielten.
    Lysandra trug einen Xyston, eine etwa elf attische Fuß messende Stoßlanze, wie sie auch von Fußsoldaten verwendet wurde. Sie war in etwa doppelt so lang wie Lysandra groß. Sie hoffte, damit den Panzer des Drachen durchbrechen zu können, um sein schwarzes Herz zu durchbohren. Dies, so sagten die Orakeldiener von Delphoí, sei die einzige Stelle, wo das Untier verletzbar sei. Des Weiteren trug Lysandra neben ihrem Bogen, den gewöhnlichen Pfeilen, den Brandpfeilen und ihrem Dolch einen Kopis, ein weiteres Erbstück des Spartaners Leonidas. Dabei handelte es sich ein Kurzschwert mit vorne breiter werdender, asymmetrischer Klinge.
    In der Corycischen Höhle hauste der Drache. Während sie den steinigen, gefährlichen Pfad hinaufkletterte und dem Untier immer näher kam, konnte sie nicht verhindern, dass Furcht sie befiel. Es gelang ihr, das Zittern ihrer Glieder zu unterdrücken, doch ihr Herz raste unvermindert weiter.
    Einst huldigte man in der Corycischen Grotte den Musen und dem großen Gott Pan. Die Thyriaden, delphoísche Frauen im Gefolge des Dionysos, feierten alle zwei Jahre Orgien auf dem Berge. Das Fest stand in diesem Jahr noch bevor, doch solange der Drache dort hauste, konnte es natürlich nicht stattfinden. Lange würden die Delphoíer den Drachen nicht mehr geheim halten können.
    Lysandra brauchte etwa zweieinhalb Stunden für den Aufstieg. In der Nähe der Höhle bemühte sie sich, so leise wie möglich zu sein, denn das Ungeheuer sollte sie möglichst spät entdecken. Sie bezweifelte
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