Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy
Autoren: Eva Hornung
Vom Netzwerk:
I
    Die erste Nacht war am schlimmsten.
    Romotschka saß auf dem Bett, während die Kälte in die Wohnung kroch. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Wohnungstür gerichtet.
    Draußen herrschte helle Aufregung. Das Gebäude war von Flüchen und Schreien erfüllt, als wären alle Bewohner auf den Beinen, betrunken und wütend. Gegenstände wurden durch die Flure und die Treppen hinab geschleift. Doch dann verhallten die Stimmen, und das Gepolter und das Quietschen der Räder waren nicht mehr zu hören. Er wusste, dass die Leute das Haus verließen. Sie stapften hin und her, um ihre Habseligkeiten zu holen, und dann waren sie weg. Keiner von ihnen klang nach Onkel. Auf keinen der Flüche, auf kein Straucheln und Schlurfen folgte ein vertrautes Geräusch. Kein Scharren an der Tür, kein Drehen des Schlüssels. Nicht das erhoffte Ächzen der Angeln. Kein Hereinstolpern. Kein Schnaufen durch die Nasenhaare im Dunkeln – nur sein eigener frostiger Atem. Nur er war da, atmete die Dunkelheit ein und aus.
    Seit Wochen war er wütend auf Onkel, doch im Laufe des Abends verrauchte sein Zorn. Er blickte zur Tür. Seine Mutter hatte er schon lange nicht mehr gesehen, über eine Woche nicht mehr. Seither hatte Onkel ihre Besitztümer Stück für Stück fortgebracht. Zuerst ihre Uhr, dann das Holzregal seiner Mutter, das einmal ihrer Mutter gehört hatte. Dann noch andere wichtige Sachen – den viereckigen Tisch, an dem sie gefrühstückt hatten, die beiden Stühle, den flimmernden Fernseher. Doch bisher war Onkel noch nie so spät nach Hause gekommen – außer vielleicht an den Tagen, an denen die Sozialhilfe ausbezahlt wurde.
    Inzwischen füllte die Dunkelheit jeden Winkel aus. Romotschka kletterte steifbeinig vom Bett und zog an der Elektroschnur. Nichts. Er lief zur elektrischen Kochplatte, die auf dem Regal neben der Garderobe stand. Obwohl er wusste, dass es verboten war, streckte er die Hand aus und drehte die beiden gesprungenen Knöpfe. Ihm schlug das Herz bis zum Hals.
    Kein Klicken, kein freundliches orangefarbenes Aufleuchten an den Knöpfen. Kein Knistern in den Metallplatten, die seinem Blick entzogen waren. Nichts.
    Er schlurfte zu den Heizungsrohren hinüber und streckte die Hand aus. Eine Flasche rollte klirrend davon.
    Die Rohre waren eiskalt. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
    Im Bad gab es kein heißes Wasser. Das Telefon war tot.
    »Da hat wohl mal wieder jemand nur an sich gedacht«, murmelte Romotschka wütend. Er legte sich wieder ins Bett, tief unter die kühlen Decken, und wiederholte seine Worte, als könnte die Erwachsenensprache Onkel zurückbringen. Doch ihm versagte die Stimme: Sein Herz pochte zu stark. Er steckte den Daumen in den Mund und versuchte, in jenen kindlichen Trancezustand zu verfallen, der ihm früher über all seine Sorgen hinweggeholfen hatte. Aber er hatte schon eine Weile nicht mehr am Daumen gelutscht, und der hatte seine perfekte Form verloren.
    All das war noch nie vorgekommen, abgesehen vom Telefon.
    Unter den Decken wurde ihm allmählich wieder warm. Nur seine Nase und seine Stirn, die aus dem Spalt zwischen Decke und Kissen hervorschauten, waren noch immer fürchterlich kalt. Er starrte ins Leere. Draußen fiel ein lautloser Regen, der auf dem Rechteck zwischen den Vorhängen undeutliche Schlieren zog. Mit dem seltsamen Gefühl, die Welt draußen versuche, zu ihm ins Zimmer zu dringen, und er müsse das bisschen Wärme verteidigen, das ihm noch geblieben war, schlief er ein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es stockdunkel, eisige Luft traf auf seine Augäpfel. Allmählich begann er sich zu fürchten. Das Fenster war jetzt heller als zuvor: Draußen fiel der erste Schnee. Das Wirbeln und Strudeln winziger Schneeflocken machte die Lautlosigkeit im Zimmer beinahe unerträglich. Totenstille umfing seinen Körper wie Watte: Weder im Bett noch im Zimmer, draußen im Flur oder irgendwo sonst im Gebäude regte sich etwas. Die Stille verwandelte alles. Wie ein Riese ragte der Schrank vor ihm auf. Die Türpolsterung schimmerte in dem seltsamen Licht, das durchs Fenster fiel. Mit zuckenden Ohren bemühte er sich, etwas – irgendetwas – zu hören; doch das Gebäude war wie ausgestorben und ließ nicht einmal die Geräusche von draußen herein. Er hörte nur das Glucksen und Blubbern seines eigenen Körpers.
     
    Am nächsten Morgen war Onkel immer noch nicht zurückgekehrt. Romotschka stand auf, sah sich grimmig um und hüllte sich in alle möglichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher