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In seinem Bann

In seinem Bann

Titel: In seinem Bann
Autoren: Anaïs Goutier
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exotische Ausnahme. Ich habe vier Wochen damit zugebracht, dir im Geiste Vorwürfe zu machen, Ian Reed. Und jetzt, wo ich dich vor mir habe, glaube ich, du weißt tatsächlich nicht einmal, was du verkehrt gemacht hast.«
    In diesem Moment passierten wir die Zufahrt zu einer herrschaftlichen neobarocken Villa im Bockenheimer Diplomatenviertel.

Kapitel 4

    Als ich an Ians Seite den salonartigen Speisesaal mit den hohen stuckverzierten Decken, den opulenten Lüstern und den edlen floralen Stofftapeten betrat, war ich froh, dass ich wenigstens ein Kleid und keine Jeans trug, wenn es auch nicht unbedingt das Outfit war, das ich wissentlich für einen Besuch in einem solchen Gourmet-Restaurant gewählt hätte.
    Andererseits entsprach auch Ians Outfit nicht ganz dem geschliffenen Dresscode unserer hessischen Bankenmetropole. Er trug zwar wieder ein weißes Hemd ohne Krawatte zum anthrazitfarbenen Anzug, aber die Hemdsärmel und die untersten Knöpfe der Jackett-Ärmel hatte er nachlässig offen gelassen.
    Das wirkte nicht angestrengt rebellisch, aber doch auf sympathische Weise unangepasst und es imponierte mir sehr.
    Die junge Service-Mitarbeiterin führte uns an einen runden Tisch an einem der hohen Bogenfenster. Die weißen Damast-Tischdecken reichten fast bis zum Boden und die Stoffservietten waren so kunstvoll zu skulpturalen Türmen gefaltet, dass man sich überwinden musste, diese Kunstwerke zu zerstören.
    Wie schon an jenem Abend im Grand Reed bestellte Ian über meinen Kopf hinweg. Diesmal orderte er eine viergängige Menüfolge mit der Bitte, uns anstelle des Fasans und des Lammfleischs etwas Vegetarisches zu servieren.
    Ian fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers seiner rechten Hand die Mulden im Fuß seines Bleikristall-Weinglases nach.
    Ich mochte seine sinnlichen Hände; diese langen schlanken Männerhände, meistens irgendwie in Bewegung, aber nie aufgeregt oder zappelig, sondern ausdrucksstark und prägnant in ihren Gesten.
    »Du hast Recht«, sagte er schließlich. »Ich bin hier her geflogen, ohne die Spur eines schlechten Gewissens. Aber jetzt habe ich eins.«
    Ich legte den Löffel beiseite, mit dem ich gerade das köstliche Kopfsalatsüppchen gelöffelt hatte.
    »Woher der plötzliche Sinneswandel?«
    »Ich wollte dich nicht kränken, Ann-Sophie, und es tut mir sehr leid. Ich hätte mich von dir verabschieden sollen, müssen. Aber ich bekam plötzlich Angst vor der eigenen Courage.«
    »Dazu wäre keine Courage nötig gewesen, Ian. Nur ein Mindestmaß an Anstand und Respekt.«
    Er nickte.
    »Stimmt. Aber in meinem Fall hätte es Courage dazu gebraucht. Ich habe dich lange beobachtet an diesem Morgen, wie du dalagst, friedlich schlummernd in dieser Flut zerwühlten Engelhaars. Ich bin geflohen vor dem, was ich für dich empfand und vor dem, was ich gern mit dir getan hätte.«
    »Was wolltest du denn mit mir tun, Ian?« fragte ich mit trockener Kehle.
    Dieses spöttische Grinsen huschte über seine Lippen, ehe seine Züge wieder ernst wurden.
    »Wie du schon sagtest, Ann-Sophie. Du gehörst nicht in meine Welt.«
    Ich spürte, wie mir die Gesichtszüge entglitten. Hatte ich alles so falsch interpretiert? Ich war also schlicht nicht gut genug für ihn?
    Doch er fuhr bereits fort: »Du bist eine Intellektuelle, Ann-Sophie. Eine strahlende Schönheit und eine bodenständige Frau. Es stand und es steht mir nicht zu, dich hinab zu ziehen in meinen ganz persönlichen Sündenpfuhl, dich den Gefahren meiner dunklen, lasterhaften Seele auszusetzen.«
    Ich schluckte schwer. »Das ist also das Bild, das du von dir selbst hast?«
    Wenn Ian Reed wie eines nicht wirkte, dann wie ein Mann mit einer solchen Selbstsicht.
    Er nahm einen Schluck Wein.
    »Nein, eigentlich habe ich bisher ganz gut mit mir gelebt. Bis du holdes, tugendhaftes Wesen in mein geliebtes verdorbenes Leben getreten bist.«
    Er klang sarkastisch und lächelte schief.
    »Ich habe in den letzten vier Wochen neun Städte auf vier Kontinenten der Welt besucht. Man sollte also meinen, dass ich ausgelastet und abgelenkt genug war. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich musste ständig an dich denken, Ann-Sophie Lauenstein. So etwas bin ich nicht gewohnt. Ich weiß, dass ich mich von dir fernhalten sollte, aber dafür bin ich einfach zu egoistisch.«
    Ich wusste nicht, was ich darauf hätte entgegnen sollen. Ich wusste nur, dass ich gerade dabei war, einen großen Fehler zu begehen. Ich glaubte ihm, ich war sogar dabei, ihm zu verzeihen und das Fatalste von
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