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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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war, aber ich konnte es ihnen nicht sagen. Ich beobachtete sie und wartete, um zu sehen, was sie sehen würden. Und dann, wie ein Blitzstrahl, hielt am späten Nachmittag ein Polizist seine erdverkrustete Faust hoch und schrie.
    »Hier rüber!«, rief er, und die anderen Beamten liefen hin und umringten ihn.
    Die Nachbarn waren nach Hause gegangen, bis auf Mrs. Stead. Nachdem Detective Fenerman mit der Runde um den Polizisten, der die Entdeckung gemacht hatte, konferiert hatte, brach er aus ihrem düsteren Haufen aus und näherte sich ihr.
    »Mrs. Stead?«, fragte er über die Absperrung hinweg, die sie voneinander trennte.
    »Ja.«
    »Haben Sie ein Kind, das zur Schule geht?«
    »Ja.«
    »Könnten Sie bitte mitkommen?«
    Ein junger Beamter geleitete Mrs. Stead unter der Polizeiabsperrung hindurch und über das holprige, aufgewühlte Maisfeld dorthin, wo die übrigen Männer standen.
    »Mrs. Stead«, sagte Len Fenerman, »kommt Ihnen das bekannt vor?« Er hielt ein Taschenbuchexemplar von
Wer die Nachtigall stört
hoch. »Lesen sie das in der Schule?«
    »Ja«, sagte sie, und aus ihrem Gesicht wich die Farbe, während sie das kleine Wort aussprach.
    »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie frage...«, setzte er an.
    »Neunte Klasse«, sagte sie und schaute in Len Fenermans schieferblaue Augen. »Susies Klasse.« Sie war Psychotherapeutin und auf ihre Fähigkeit angewiesen, sich schlechte Nachrichten anzuhören und die schwierigen Einzelheiten aus dem Leben ihrer Patienten rational zu erörtern, doch jetzt merkte sie, wie sie sich an den jungen Polizisten lehnte, der sie hergeführt hatte. Ich konnte spüren, wie sie wünschte, sie wäre mit den anderen Nachbarn nach Hause gegangen, wünschte, sie wäre im Wohnzimmer bei ihrem Mann oder hinten im Garten zusammen mit ihrem Sohn.
    »Wer unterrichtet die Klasse?«
    »Mrs. Dewitt«, sagte Mrs. Stead. »Für die Kinder ist es eine echte Erleichterung nach
Othello

    »
Othello?«
    »
Ja«, sagte sie, deren Kenntnisse über die Schule plötzlich so wichtig waren - sämtliche Polizisten lauschten. »Mrs. Dewitt wechselt gern ab mit ihrem Lesestoff, und kurz vor Weihnachten macht sie ordentlich Druck mit Shakespeare. Dann kommt als Belohnung Harper Lee dran. Wenn Susie
Wer die Nachtigall stört
bei sich hatte, bedeutet das, dass sie ihr Referat über
Othello
schon abgegeben haben muss.«
    All das erwies sich als zutreffend.
    Die Polizisten telefonierten. Ich beobachtete, wie der Kreis sich weitete. Mrs. Dewitt hatte mein Referat. Irgendwann schickte sie es meinen Eltern zurück, unzensiert, mit der Post. »Ich dachte, Sie hätten das vielleicht gern«, hatte Mrs. Dewitt auf einen beigefügten Zettel geschrieben. »Es tut mir wirklich sehr Leid.« Lindsey erbte das Referat, weil es für meine Mutter zu schmerzlich war, es zu lesen. »Der Verfemte: Ein Mann allein«, hatte ich es betitelt. Lindsey hatte »Der Verfemte« vorgeschlagen, und ich dachte mir die andere Hälfte aus. Meine Schwester lochte es und heftete jede sorgfältig mit der Hand geschriebene Seite einzeln in einen leeren Ordner. Sie legte ihn in ihren Schrank unter ihren Barbie-Koffer und den Karton, der ihre Raggedy-Ann-und-Andy-Puppen enthielt, beide in bestem Zustand, um die ich sie immer beneidet hatte.
    Detective Fenerman rief meine Eltern an. Sie hätten ein Schulbuch gefunden, glaubten sie, das mir wahrscheinlich an jenem letzten Tag ausgehändigt worden war.
    »Aber das könnte doch jedem gehören«, sagte mein Vater zu meiner Mutter, als sie eine weitere ruhelose Nachtwache begannen. »Oder sie hat es unterwegs fallen lassen.«
    Die Beweise häuften sich, doch sie weigerten sich, sie zur Kenntnis zu nehmen.
    Zwei Tage später, am zwölften Dezember, fand die Polizei meine Notizen von Mr. Bottes Unterricht. Tiere hatten das Heft von dort weggeschleppt, wo es ursprünglich vergraben gewesen war - die Erde entsprach nicht den Proben aus der Umgebung; doch das Millimeterpapier mit den hingekritzelten Theorien, die ich nie verstand, aber pflichtbewusst mitschrieb, war entdeckt worden, als eine Katze ein Krähennest auseinander nahm. Fetzen des Papiers waren zwischen den Blättern und Zweigen verstreut. Die Polizei entwirrte das Millimeterpapier zusammen mit Streifen anderen Papiers, dünner und spröde, das nicht liniert war.
    Das Mädchen, das in dem Haus wohnte, neben dem der Baum stand, erkannte einen Teil der Handschrift. Es war nicht meine Schrift, sondern die Schrift eines Jungen, der in mich
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