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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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zweifelte, rief er Ruth an. Ruth, die von einem Wandschrank in ein wandschrankgroßes Apartment in der Lower East Side aufgestiegen war. Ruth, die immer noch nach einer Form suchte, in der sie aufschreiben konnte, wen sie sah und was sie erlebt hatte. Ruth, die sich wünschte, dass alle glaubten, was sie wusste: dass die Toten wirklich mit uns reden, dass in der Luft zwischen den Lebenden Geister tanzen und sich bewegen und mit uns lachen. Sie sind der Sauerstoff, den wir atmen.
    Nun bin ich an dem Ort, den ich den weiten, weiten Himmel nenne, weil er all meine einfachsten Wünsche erfüllt, aber auch die bescheidensten und grandiosesten. Das Wort, das mein Großvater benutzt, ist
Trost
.
    Es gibt also Kuchen und Kissen und Farben zuhauf, doch unter dieser eher augenfälligen Patchworkdecke finden sich andere Orte, etwa ein stiller Raum, in dem man jemandem die Hand halten kann und nichts zu sagen braucht. Keine Geschichte erzählen muss. Keine Behauptungen aufstellen. Wo man, so lange man will, am äußersten Rande seiner Haut leben kann. Dieser weite, weite Himmel umfasst Flachkopfnägel und den weichen Flaum junger Blätter, wilde Achterbahnfahrten und entwischte Murmeln, die hinunterfallen, in der Luft hängen und einen dann an einen Ort bringen, den man sich in seinen Träumen im kleinen Himmel nie hätte vorstellen können.
    Eines Nachmittags schaute ich mir mit meinem Großvater die Erde an. Wir beobachteten Vögel, die von Wipfel zu Wipfel der höchsten Kiefern in Maine flogen, und teilten die Gefühle der Vögel, wenn sie landeten, dann losflogen und wieder landeten. So gelangten wir nach Manchester und in ein Lokal, an das mein Großvater sich aus der Zeit erinnerte, als er geschäftlich an der Ostküste zu tun gehabt hatte. Es war heruntergekommen in den vergangenen fünfzig Jahren, und nach kurzer Bestandsaufnahme wollten wir gehen. Doch in dem Augenblick, in dem ich mich abwandte, sah ich ihn: Mr. Harvey, der aus einem Greyhound-Bus stieg.
    Er ging in das Lokal und bestellte an der Theke einen Kaffee. Für Uneingeweihte sah er nach wie vor ganz alltäglich aus, nur nicht um die Augen herum, aber er trug seine Kontaktlinsen nicht, und keiner nahm sich mehr die Zeit, hinter seine dicken Brillengläser zu schauen.
    Während eine ältere Kellnerin ihm einen Styroporbecher mit kochend heißem Kaffee reichte, hörte er über der Tür hinter sich eine Glocke klimpern und verspürte einen kalten Luftzug.
    Es war ein junges Mädchen, das in den letzten Stunden ein paar Reihen vor ihm gesessen, Walkman gehört und die Songs mitgesummt hatte. Er setzte sich an die Theke, bis sie von der Toilette zurück war, und folgte ihr dann nach draußen.
    Ich beobachtete, wie er ihr durch den schmutzigen Schnee am Rande des Lokals und zur Rückseite der Bushaltestelle nachging, wo sie, vom Wind geschützt, eine rauchen wollte. Als sie dort stehen blieb, gesellte er sich zu ihr. Sie erschrak nicht einmal. Er war einfach nur ein langweiliger, schlecht gekleideter alter Mann.
    Im Geiste überschlug er sein Vorhaben. Der Schnee und die Kälte. Die tiefe Schlucht, die direkt vor ihnen abfiel. Die leeren Wälder auf der anderen Seite. Und er fing ein Gespräch mit ihr an.
    »Lange Fahrt«, sagte er.
    Zuerst blickte sie ihn an, als könnte sie nicht fassen, dass er sie ansprach.
    »Hm mmmm«, machte sie.
    »Allein unterwegs?«
    In diesem Moment bemerkte ich die Eiszapfen, die in einer langen, üppigen Reihe über ihnen hingen.
    Das Mädchen trat seine Zigarette mit dem Absatz aus und wandte sich zum Gehen.
    »Wichser«, sagte sie und ging mit großen Schritten davon.
    Einen Augenblick später fiel der Eiszapfen. Seine schwere Kälte brachte Mr. Harvey aus dem Gleichgewicht, sodass er stolperte und nach vorn stürzte. Es würde Wochen dauern, bis der Schnee in der Schlucht so weit geschmolzen war, dass er wieder zum Vorschein kam.
    Nun will ich aber noch von jemand ganz Besonderem erzählen:
    Hinter ihrem Haus legte Lindsey einen Garten an. Ich sah zu, wie sie das lange, dicht bepflanzte Blumenbeet jätete. Ihre Finger krümmten sich in den Handschuhen, als sie an die Patienten dachte, die sie jeden Tag in ihrer Praxis empfing - wie sollte sie ihnen helfen, die Karten richtig zu deuten, die das Leben ihnen ausgeteilt hatte, wie ihren Schmerz lindern? Ich erinnerte mich, dass die einfachsten Dinge oft diejenigen waren, die sich trotz ihrer, wie ich fand, großen Geistesgaben ihrem Verständnis entzogen. So brauchte sie zum Beispiel
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