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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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Ich kniff mich unter der Decke. Nichts.
    Die wolkige Masse am Fußende des Bettes begann jetzt, Gestalt anzunehmen. Während Ray aus dem Bett schlüpfte und dastand, sah ich Männer und Frauen den Raum bevölkern.
    »Ray«, sagte ich, kurz bevor er das Bad erreichte. Ich hätte gern »ich werde dich vermissen« gesagt oder »geh nicht« oder »danke«.
    »Ja.«
    »Du musst Ruths Tagebücher lesen.«
    »Das werde ich auf jeden Fall«, sagte er.
    Ich schaute durch die schattenhaften Gestalten der Geister hindurch, die am Fußende des Bettes eine Masse bildeten, und sah, dass er mich anlächelte. Sah, wie sein wunderschöner, fragiler Körper sich umdrehte und durch die Tür schritt. Eine zarte und unvermittelte Erinnerung.
    Während der Dampf aus dem Badezimmer wogte, machte ich mich langsam auf zu dem kleinen Kinderschreibtisch, wo Hal Rechnungen und Unterlagen stapelte. Ich musste wieder an Ruth denken, daran, dass ich das nicht vorausgesehen hatte - die wunderbare Möglichkeit, von der Ruth seit unserem Zusammentreffen auf dem Parkplatz geträumt hatte. Stattdessen erkannte ich, dass es die Hoffnung war, auf die ich im Himmel und auf der Erde gesetzt hatte. Der Traum, Tierfotografin zu werden, der Traum, in der Junior High einen Oscar zu gewinnen, der Traum, Ray Singh noch einmal zu küssen. Was nicht alles geschieht, wenn man träumt!
    Vor mir sah ich ein Telefon und nahm den Hörer ab. Ohne nachzudenken, wählte ich die Nummer von Zuhause, wie bei einem Schloss, dessen Kombination man erst kennt, wenn man die Wählscheibe betätigt.
    Beim dritten Läuten nahm jemand ab.
    »Hallo?«
    »Hallo, Buckley«, sagte ich.
    »Wer ist da?«
    »Ich bin's, Susie.«
    »Wer ist da?«
    »Susie, Schatz, deine große Schwester.«
    »Ich kann nichts hören«, sagte er.
    Ich starrte den Apparat eine Minute lang an, dann spürte ich sie. Das Zimmer war voll von jenen schweigsamen Geistern. Unter ihnen waren Kinder wie Erwachsene. »Wer seid ihr? Wo kommt ihr alle her?«, fragte ich, aber was meine Stimme gewesen war, erzeugte kein Geräusch mehr. Das merkte ich. Ich saß da und beobachtete die anderen, Ruth dagegen lag ausgestreckt über dem Schreibtisch.
    »Kannst du mir ein Handtuch zuwerfen?«, rief Ray, nachdem er das Wasser abgedreht hatte. Als ich nicht antwortete, zog er den Vorhang zurück. Ich hörte, wie er aus der Wanne stieg und zur Tür kam. Er sah Ruth und rannte auf sie zu. Er berührte sie an der Schulter, und sie wachte verschlafen auf. Sie schauten einander an. Sie brauchte nichts zu sagen. Er wusste, dass ich nicht mehr da war.
    Ich erinnerte mich, wie ich einmal mit meinen Eltern und Lindsey und Buckley mit dem Rücken voran im Zug in einen dunklen Tunnel gefahren war. So fühlte es sich an, als ich zum zweiten Mal die Erde verließ. Der Bestimmungsort irgendwie unausweichlich, die vorbeihuschenden Ansichten oft gesehen. Doch diesmal wurde ich begleitet, nicht entrissen, und ich wusste, dass wir eine lange Reise zu einem sehr entlegenen Ort unternahmen.
    Die Erde wieder zu verlassen war leichter, als es das Zurückkommen gewesen war. Ich sah zwei alte Freunde, die sich im Hinterzimmer von Hals Motorradwerkstatt schweigend umarmten, beide noch nicht bereit, laut auszusprechen, was ihnen widerfahren war. Ruth war erschöpfter und zugleich glücklicher als je zuvor. Ray fing gerade erst an, das, was er erlebt hatte, und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu erfassen.

23
    Am nächsten Morgen stahl sich der Duft des Gebäcks seiner Mutter die Treppe hinauf in Rays Zimmer, wo er und Ruth beieinander lagen. Ihre Welt hatte sich über Nacht verändert. So einfach war das.
    Nachdem sie Hals Werkstatt verlassen und dabei darauf geachtet hatten, alle Spuren ihrer Anwesenheit zu tilgen, waren Ray und Ruth schweigend zu Ray nach Hause gefahren. Später am Abend, als Ruana die beiden im Schlaf aneinander geschmiegt und voll bekleidet vorfand, war sie froh, dass Ray zumindest diese eine seltsame Freundin hatte.
    Gegen drei Uhr morgens wachte Ray auf. Er setzte sich hin und schaute Ruth an, ihre langen, schlaksigen Gliedmaßen, ihren wunderschönen Körper, den er geliebt hatte, und verspürte, wie ihn eine plötzliche Wärme durchflutete. Er wollte sie gerade berühren, da fiel ein Mondstrahl durch jenes Fenster, durch das ich ihn so viele Jahre lang hatte dasitzen und lernen sehen, auf den Fußboden. Er folgte ihm. Dort auf dem Boden stand Ruths Tasche.
    Leise glitt er vom Bett und ging zu ihr hinüber. Drinnen war ihr
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