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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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sei Dank hat er das mit meiner kleinen Schwester Lindsey gemacht. Diese Erniedrigung blieb mir zumindest erspart. Doch er erzählte gern, wie ich, sobald Lindsey geboren war, so eifersüchtig auf sie wurde, dass ich eines Tages, als er im Nebenzimmer am Telefon war, auf der Couch entlangrobbte - er konnte mich von seinem Standort aus sehen - und versuchte, Lindsey in ihrem tragbaren Bettchen anzupinkeln. Diese Geschichte demütigte mich jedes Mal, wenn er sie erzählte, dem Pastor unserer Kirche, unserer Nachbarin Mrs. Stead, die Therapeutin war und deren Einstellung dazu er hören wollte, und jedem, der irgendwann mal meinte: »Susie hat eine Menge Mumm!«
    »Mumm!«, pflegte mein Vater dann zu sagen. »Über ihren Mumm kann ich Ihnen was erzählen«, und dann ließ er umgehend seine Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte vom Stapel.
    Wie sich aber erwies, hatte mein Vater uns Mr. Harvey gegenüber nicht erwähnt und ihm auch nicht die Wie-Susie-Lindsey-anpinkelte-Geschichte erzählt.
    Später sollte Mr. Harvey, als er auf der Straße mit meiner Mutter zusammenstieß, diese Worte sagen: »Ich habe von der grässlichen, grässlichen Tragödie gehört. Wie hieß Ihre Tochter noch mal?«
    »Susie«, sagte meine Mutter, die unter der Last des Namens all ihre Kräfte zusammennehmen musste, einer Last, von der sie naiverweise hoffte, dass sie irgendwann leichter werden würde, denn sie wusste nicht, dass sie für den Rest ihres Lebens nur auf neue und mannigfaltige Weise schmerzen würde.
    Mr. Harvey sagte das Übliche: »Ich hoffe, sie kriegen den Mistkerl. Es tut mir Leid, dass Sie sie verloren haben.«
    Ich war inzwischen in meinem Himmel, wo ich meine Gliedmaßen zusammensetzte und seine Dreistigkeit nicht fassen konnte. »Der Mann hat kein Schamgefühl«, sagte ich zu Franny, meiner Aufnahmeberaterin. »Genau«, sagte sie, und das war alles, was sie antwortete. In meinem Himmel gab es nicht viel Gequatsche.
    Mr. Harvey meinte, es würde nur einen Augenblick dauern, also folgte ich ihm ein Stückchen weiter ins Maisfeld hinein, wo weniger Stängel abgebrochen waren, weil keiner hier die Abkürzung zur Junior High nahm. Meine Mom hatte meinem kleinen Bruder Buckley erzählt, der Mais auf dem Feld sei ungenießbar, als er fragte, warum niemand aus der Nachbarschaft ihn äße. »Der Mais ist für Pferde, nicht für Menschen«, sagte sie. »Auch nicht für Hunde?«, fragte Buckley. »Nein«, erwiderte meine Mutter. »Auch nicht für Dinosaurier?«, fragte Buckley. Und immer so weiter.
    »Ich habe ein kleines Versteck gebaut«, sagte Mr. Harvey.
    Er blieb stehen und wandte sich zu mir um.
    »Ich sehe nichts«, sagte ich. Mir war bewusst, dass Mr. Harvey mich merkwürdig anschaute. Ältere Männer hatten mich schon öfter so angeguckt, seit ich meinen Babyspeck verloren hatte, aber normalerweise drehten sie meinetwegen nicht durch, wenn ich meinen königsblauen Parka und meine superweiten, gelben Schlaghosen trug. Seine Brille war klein und rund und hatte ein goldfarbenes Gestell, und seine Augen blickten über sie hinweg auf mich.
    »Du solltest aufmerksamer sein, Susie«, sagte er.
    Ich hatte das Gefühl, ich müsste meine Aufmerksamkeit auf den Heimweg richten, doch ich tat es nicht. Wieso nicht? Franny meinte, solche Fragen seien fruchtlos. »Du hast es eben nicht getan, und damit hat sich's. Grüble nicht darüber nach. Das bringt nichts. Du bist tot, und das musst du akzeptieren.«
    »Versuch's noch mal«, sagte Mr. Harvey, und er hockte sich hin und klopfte auf den Boden.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    Meine Ohren waren eiskalt. Die bunte Mütze mit der Bommel und den Glöckchen, die meine Mutter mir zu Weihnachten gemacht hatte, mochte ich nicht tragen. Ich hatte sie in meine Parkatasche gestopft.
    Ich entsinne mich, dass ich hinüberging und neben ihm auf den Boden stampfte. Er fühlte sich noch härter an als gefrorene Erde, die schon ganz schön hart ist.
    »Das ist Holz«, sagte Mr. Harvey. »Damit der Eingang nicht einbricht. Ansonsten besteht es nur aus Erde.«
    »Was ist es?«, fragte ich. Ich fror nicht mehr und war auch nicht mehr merkwürdig berührt von dem Blick, den er mir zugeworfen hatte. Es war, als wäre ich im Naturkundeunterricht: Ich war neugierig.
    »Komm und guck's dir an.«
    Der Einstieg war unbequem, das räumte er ein, sobald wir beide in dem Loch waren. Aber ich staunte so sehr darüber, wie er einen Schornstein gebaut hatte, der den Rauch ableiten würde, falls er da unten jemals ein
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