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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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wird es eintreffen.«
    Es klang so einfach, und das war es auch. So kamen Holly und ich zu unserem Doppelhaus.
    Ich verabscheute unser Haus auf der Erde. Ich verabscheute die Möbel meiner Eltern und fand es schrecklich, dass man von unserem Haus auf ein weiteres Haus und noch ein Haus und noch eins guckte - ein gleichförmiges Echo, das sich über den Hügel zog. Unser Doppelhaus ging auf einen Park hinaus, und in der Ferne, nahe genug, um zu wissen, dass wir nicht allein waren, aber nicht zu nahe, konnten wir die Lichter anderer Häuser sehen.
    Irgendwann begann ich, mir mehr zu wünschen. Was ich seltsam fand, war, wie sehr ich mir wünschte, das zu wissen, was ich auf der Erde nicht gewusst hatte. Ich wollte erwachsen werden dürfen.
    »Die Menschen werden erwachsen, indem sie leben«, sagte ich zu Franny. »Ich möchte leben.«
    »Das geht nicht«, erwiderte sie.
    »Können wir die Lebenden nicht wenigstens beobachten?«, fragte Holly.
    »Das tut ihr doch schon«, sagte sie.
    »Ich glaube, sie meint ganze Lebensläufe«, sagte ich, »von Anfang bis Ende, um zu sehen, wie sie es gemacht haben. Um die Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. Damit wir besser so tun können, als ob.«
    »Ihr werdet es nicht erleben«, stellte Franny klar.
    »Vielen Dank, Superhirn«, sagte ich, doch unsere Himmel begannen sich zu vergrößern.
    Die Highschool war immer noch da, der gesamte Fairfax-Komplex, aber jetzt führten Straßen hinaus.
    »Benutzt die Wege«, sagte Franny, »und ihr findet, was ihr braucht.«
    Also machten Holly und ich uns auf. In unserem Himmel gab es eine Eisdiele, wo niemand sagte, wenn man Pfefferminzeis am Stiel wollte: »Dafür ist jetzt nicht die Jahreszeit«; es gab eine Zeitung, die oft Fotos von uns veröffentlichte und uns bedeutend wirken ließ; auch richtige Männer waren darin und wunderschöne Frauen, denn Holly und ich waren von Modemagazinen begeistert. Manchmal schien Holly unaufmerksam, und manchmal war sie nicht da, wenn ich nach ihr suchte. Das war, wenn sie sich in einem Teil des Himmels aufhielt, den wir nicht miteinander teilten. Dann vermisste ich sie, aber es war eine merkwürdige Form des Vermissens, weil ich mittlerweile wusste, was ewig bedeutete.
    Was ich mir am meisten wünschte, konnte ich nicht haben: dass Mr. Harvey tot wäre und ich am Leben. Der Himmel war nicht vollkommen. Doch allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich vielleicht, wenn ich genau beobachtete und es mir wünschte, das Leben derjenigen auf der Erde verändern konnte, die ich liebte.
    Es war mein Vater, der am neunten Dezember den Anruf entgegennahm. Das war der Anfang vom Ende. Er teilte der Polizei meine Blutgruppe mit, musste die Helligkeit meiner Haut beschreiben. Sie fragten ihn, ob ich irgendwelche besonderen Merkmale hätte. Er fing an, mein Gesicht im Detail zu beschreiben, und verlor sich darin. Detective Fenerman ließ ihn schwadronieren, da die nächste Neuigkeit zu schrecklich war, um jemandem damit ins Wort zu fallen. Aber dann sagte er es: »Mr. Salmon, wir haben nur einen Körperteil gefunden.«
    Mein Vater stand in der Küche, und ein Übelkeit erregendes Zittern überfiel ihn. Wie sollte er Abigail das erzählen?
    »Sie wissen also nicht sicher, dass sie tot ist?«, fragte er.
    »Nichts ist jemals sicher«, sagte Len Fenerman.
    Das war der Satz, den mein Vater zu meiner Mutter sagte: »Nichts ist jemals sicher.«
    Drei Nächte lang hatte er nicht gewusst, wie er meine Mutter anfassen oder was er sagen sollte. Sie waren nie zuvor beide gleichzeitig am Boden gewesen. Normalerweise war es der eine, der den anderen brauchte, aber nicht beide, die einander brauchten, und es hatte die Möglichkeit der Berührung gegeben, um an der Kraft des Stärkeren teilzuhaben. Und sie hatten nie begriffen, wie sie es jetzt taten, was das Wort
Entsetzen
bedeutete.
    »Nichts ist jemals sicher«, sagte meine Mutter und klammerte sich daran, wie er es gehofft hatte.
    Meine Mutter war diejenige, die die Bedeutung jedes Anhängers an meinem Armband kannte - wo ich ihn herhatte und warum er mir gefiel. Sie machte eine peinlich genaue Aufstellung der Dinge, die ich bei mir gehabt und getragen hatte. Falls irgendetwas davon Kilometer weit entfernt an einer Straße gefunden würde, konnte ein dortiger Polizist es vielleicht mit meinem Tod in Verbindung bringen.
    Im Geiste schwankte ich zwischen der bittersüßen Freude, meine Mutter all die Sachen, die ich bei mir gehabt hatte und liebte, benennen zu sehen, und
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