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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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verknallt war: Ray Singh. Auf dem speziellen Reispapier seiner Mutter hatte Ray mir einen Liebesbrief geschrieben, den ich nie gelesen hatte. Er hatte ihn während unserer Laborstunde am Mittwoch in mein Heft gesteckt. Seine Handschrift war charakteristisch. Als die Beamten kamen, mussten sie die Fetzen meines Biologieheftes und die von Rays Liebesbrief zusammensetzen.
    »Ray geht es nicht gut«, sagte seine Mutter, als ein Ermittler bei ihnen vorbeischaute und mit ihm sprechen wollte. Aber sie erfuhren von ihr, was sie wissen wollten. Ray nickte ihr zu, als sie ihrem Sohn die Fragen des Polizisten wiederholte. Ja, er hatte Susie Salmon einen Liebesbrief geschrieben. Ja, er hatte ihn in ihr Heft gesteckt, nachdem Mr. Botte sie gebeten hatte, die Klassenarbeiten einzusammeln. Ja, er hatte sich selbst als den Mohren bezeichnet.
    Ray Singh wurde der erste Verdächtige.
    »Dieser liebe Junge?«, sagte meine Mutter zu meinem Vater.
    »Ray Singh ist nett«, sagte meine Schwester beim Abendessen monoton.
    Ich beobachtete meine Angehörigen und merkte, dass sie Bescheid wussten. Ray Singh war es nicht gewesen.
    Die Polizisten fielen über sein Haus her, setzten ihn schwer unter Druck, indem sie Andeutungen machten. Sie wurden angespornt durch das Schuldgefühl, das sie in Rays dunkle Haut hineininterpretierten, durch die Wut, die sie wegen seines Auftretens verspürten, und durch seine schöne, aber zu exotische und unzugängliche Mutter. Doch Ray hatte ein Alibi. Ein ganzes Heer von Nationen konnte zu seinen Gunsten aussagen. Sein Vater, der an der University of Pennsylvania postkoloniale Geschichte lehrte, hatte seinen Sohn gedrängt, seine Erfahrungen als Teenager im Rahmen eines Vortrags wiederzugeben, den er am Tag meines Todes im International House hielt.
    Zunächst hatte man in Rays Abwesenheit von der Schule einen Beweis für seine Schuld gesehen, doch sobald der Polizei eine Liste mit fünfundvierzig Teilnehmern vorgelegt wurde, die Ray zum Thema »Suburbia: Erfahrungen in Amerika« sprechen gehört hatten, mussten sie seine Unschuld eingestehen. Die Polizei stand vor dem Haus der Singhs und zupfte kleine Zweige aus den Hecken. Es wäre so einfach gewesen, so märchenhaft, wenn ihnen die Lösung buchstäblich aus einem Baum vom Himmel gefallen wäre. Aber Gerüchte verbreiteten sich, und was Ray in der Schule bisher in sozialer Hinsicht an Fortschritten gemacht hatte, kehrte sich um. Er ging jetzt immer gleich nach dem Unterricht heim.
    All das machte mich verrückt. Zuzuschauen, aber nicht in der Lage zu sein, die Polizei auf das grüne Haus zuzusteuern, so nahe dem meiner Eltern, wo Mr. Harvey saß und Kreuzblumen für ein Puppenhaus im gotischen Stil schnitzte, das er baute. Er sah die Nachrichten und blätterte die Zeitungen durch, trug jedoch seine eigene Unschuld wie einen bequemen alten Mantel. In ihm war Aufruhr gewesen, und nun herrschte Ruhe.
    Ich versuchte, mich mit Holiday, unserem Hund, zu trösten. Ich vermisste ihn so, wie ich mir bisher nicht erlaubt hatte, meine Mutter und meinen Vater, meine Schwester und meinen Bruder zu vermissen. Diese Form des Vermissens hätte bedeutet zu akzeptieren, dass ich nie wieder bei ihnen sein würde; es mag albern klingen, aber das glaubte ich nicht, wollte ich nicht glauben. Holiday schlief nachts bei Lindsey, stand jedes Mal neben meinem Vater, wenn er einem neuen Unbekannten die Tür öffnete. Nahm fröhlich an jeder heimlichen Nascherei meiner Mutter teil. Ließ sich im Haus der verschlossenen Türen von Buckley am Schwanz und an den Ohren ziehen.
    Es war zu viel Blut in der Erde.
    Am fünfzehnten Dezember kamen nach den vielen, die anklopften und meiner Familie damit signalisierten, sie müsse sich noch weiter abstumpfen, ehe sie Fremden ihre Haustür öffnete - den freundlichen, aber unbeholfenen Nachbarn, den stotternden, aber grausamen Reportern - diejenigen, die meinen Vater schließlich überzeugten.
    Es waren Len Fenerman, der so nett zu ihm gewesen war, und ein Polizist in Uniform.
    Sie traten ein, inzwischen vertraut genug mit dem Haus, um zu wissen, dass es meiner Mutter lieber war, wenn sie das, was sie zu sagen hatten, im Wohnzimmer sagten, damit meine Geschwister nicht mithörten.
    »Wir haben etwas gefunden, von dem wir glauben, dass es Susie gehört«, sagte Len. Len war vorsichtig. Ich sah, wie er seine Worte abwog. Er achtete darauf, so zu formulieren, dass meine Eltern von ihrem ersten Gedanken befreit wurden - dass die Polizei meine Leiche
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