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Ein Tag, zwei Leben

Ein Tag, zwei Leben

Titel: Ein Tag, zwei Leben
Autoren: Jessica Shirvington
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VORWORT
    Ich bin eine Lügnerin.
    Das ist bei mir nicht zwanghaft.
    Sondern notwendig.
    Ich bin zwei Personen. Keine davon ist besser als die andere, keine Superkräfte, kein geheimnisvolles Schicksal, kein Zwei-Orte-zur-gleichen-Zeit-Mechanismus – aber zwei Personen. Grundverschieden, auch wenn ich eigentlich immer gleich aussehe. Meine körperlichen Merkmale, mein Gedächtnis und mein Name folgen mir. Alles andere – einfach alles – ist seit achtzehn Jahren verschieden. Vierundzwanzig Stunden bin ich das erste Ich. Und innerhalb eines Wimpernschlags werde ich dann für vierundzwanzig Stunden zu meinem zweiten Ich. Jeden Tag, ohne Ausnahme, geht das so weiter …
    Ich habe das nie jemandem erzählt. Als ich alt genug war, um dahinterzukommen, dass nicht jeder zwei Leben hat – als ich diesen kleinen Schock erlitten hatte –, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und die Gesellschaft – beide Gesellschaften – wollten es gar nicht wissen.
    Als ich ein Kind war, wusste ich nicht, dass ich anders war als alle anderen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es schon immer so war mit diesen zwei Leben, was heißt, dass ich wahrscheinlich zweimal geboren wurde, zweimal ein Baby war. Wenig überraschend, dass ich froh bin, mich nicht mehr daran zu erinnern. Alle vierundzwanzig Stunden den einen Armen entrissen und in den anderen gelandet? Na ja, da spielt es keine Rolle, wie sehr sie dich lieben … Kann man hier wohl von Problemen sprechen?
    Übung ist jedoch alles und ich betrachte mich gern als einen Profi. Ich habe die Macken ausgebügelt, die schlimmsten Fallen erkannt und gelernt sie zu vermeiden. Ich komme zurecht. Ich weiß, was für eine Person ich in jedem meiner Leben sein muss, und versuche, mein Gehirn nicht mehr mit den » endlosen Fragen« zu verwirren.
    Ich habe zu akzeptieren gelernt, dass ich im einen Leben Erdbeeren mag, während im anderen meine Geschmacksknospen davor zurückschrecken. Ich weiß, dass ich im einen Leben fließend Französisch spreche, aber auch wenn mich die Erinnerung an diese Sprache ins andere Leben begleitet, darf ich das dort nicht tun. Dann gibt es noch einfachere Dinge, die ich mir merken muss, so wie meine fabelhafte kleine Schwester Maddie im einen Leben und meine weniger fabelhaften großen Brüder im anderen.
    Vor allem aber versuche ich, nicht darüber nachzudenken. Ich weiß, welches Leben ich bevorzuge. Und jede Nacht, wenn ich mich wie Cinderella von einem Leben ins andere schleiche, stirbt ein sehr kleiner, aber deutlich spürbarer Teil von mir. Das Schlimmste ist, dass sich nichts an meiner Situation je geändert hat. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass meine innere Uhr anders tickt als bei allen anderen. Es gibt kein Schlupfloch.
    Zumindest bis jetzt.

1 – Roxbury, Freitag
    Ich habe mir heute den Arm gebrochen.
    Capri und ich gingen gerade zur U-Bahnstation. Ich kickte eine Coladose vor mir her und verteilte im Vorbeigehen freundliche und vor allem säuerliche Lächeln an die Anzugträger, für die wir ihren Blicken nach schlimmste Hooligans waren. Lustig, wie Klamotten und die großzügige Verwendung von Eyeliner das bewirken können. In meinem anderen Leben würde niemand es wagen, mir derartige Blicke zuzuwerfen. Aber irgendetwas daran verschaffte mir Genugtuung. Mein verwaschener schwarzer Minirock und meine Doc-Martens-Schnürschuhe verhalfen mir zu dem, was ich brauchte.
    Meiner Identität.
    Capri tänzelte voraus, ihr schwarzes Haar, irgendwas zwischen Dreadlocks und Undefinierbar, hüpfte auf und ab. » Wetten, dass die Jungs schon da sind?«, rief sie über ihre Schulter und fing an zu rennen.
    Ich unterdrückte ein Stöhnen, nahm die Coladose auf die Zehenspitzen, kickte sie nach oben und fing sie mit der Hand auf. Dann lief ich ebenfalls los. Oben an der Treppe blieb ich stehen, um die Dose in den Mülleimer zu werfen und dann … und dann blieb ich doch nicht stehen. Ich weiß nicht, ob es sowieso passiert wäre. Aber genau in diesem Moment – einen Fuß in der Luft, bereit, auf die erste der fünfzigundetwas Stufen zu treten – sah ich ihn.
    Na ja, ich glaubte zumindest, ihn zu sehen.
    Einen kugelbäuchigen Mann mittleren Alters. Gekleidet in einen braungrauen Anzug und mit abgewetzten rotbraunen Schuhen. Er hatte den Ansatz einer Glatze und schwitzte – entweder weil er zu warm angezogen war oder wegen seines Körpergewichts. Er sah anders aus als sonst, aber ich war mir in diesem Moment sicher. Der Typ aus dem Obstladen
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