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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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hatte Grandma Lynn die Narzissen gegeben und war fast sofort hinaufgegangen, die Toilette als Vorwand nutzend. Jeder wusste, wo sie hinwollte: in mein altes Zimmer.
    Sie blieb in der Tür stehen, als stünde sie am Rande des Pazifik. Es war immer noch lavendelfarben. Die Einrichtung war bis auf einen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne von meiner Großmutter unverändert.
    »Ich liebe dich, Susie«, sagte sie.
    Diese Worte hatte ich so oft von meinem Vater gehört, dass sie mich jetzt schockierten; ich hatte, ohne es zu wissen, darauf gewartet, sie von meiner Mutter zu hören. Sie hatte Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass diese Liebe sie nicht zerstören würde, und ich hatte ihr, das wusste ich jetzt, diese Zeit gelassen, sie ihr lassen können, denn davon hatte ich reichlich.
    Sie bemerkte ein Foto auf meiner alten Kommode, das Grandma Lynn in einen Goldrahmen gesteckt hatte. Es war das allererste Foto, das ich je von ihr gemacht hatte - mein geheimes Porträt von Abigail, bevor ihre Familie erwachte und sie Lippenstift auftrug. Susie Salmon, Tierfotografin, hatte eine Frau eingefangen, die auf ihren dunstigen Vorortrasen hinausstarrte.
    Sie ging ins Bad, wo sie geräuschvoll den Wasserhahn betätigte und die Handtücher durcheinander brachte. Sie sah sofort, dass ihre Mutter diese Handtücher gekauft hatte - kremweiß, eine lächerliche Farbe für Handtücher, und mit Monogramm - ebenfalls lächerlich, fand meine Mutter. Aber dann lachte sie ebenso bereitwillig über sich selbst. Sie fing an, sich zu fragen, was ihr ihre Politik der verbrannten Erde in all den Jahren genützt hatte. Ihre Mutter war liebevoll, wenn sie auch trank, zuverlässig, wenn auch eitel. Wann war es angemessen, nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden loszulassen - sie akzeptieren zu lernen?
    Ich war nicht im Badezimmer, in der Wanne oder im Wasserhahn; ich hielt nicht Hof in dem Spiegel über ihrem Kopf oder stand als Miniaturausgabe auf der Spitze jeder Borste von Lindseys oder Buckleys Zahnbürste. Irgendwie, ich konnte mir nicht erklären, warum - hatten sie einen Zustand der Seligkeit erreicht? Waren meine Eltern für immer wieder zusammen? Hatte Buckley angefangen, über seine Probleme zu sprechen? Würde das Herz meines Vaters ganz gesund werden? -, hatte ich die Sehnsucht nach ihnen hinter mir gelassen, das Bedürfnis, dass sie sich nach mir sehnten. Obgleich ich mich immer noch nach ihnen sehnen würde. Und sie sich nach mir. Immer.
    Unten führte Hal das Gelenk von Buckleys Hand, die den Griff des Besens hielt. »Jetzt streich damit leicht über die kleine Trommel.« Und Buckley tat es und schaute zu Lindsey auf, die ihm gegenüber auf der Couch saß.
    »Ganz schön cool«, sagte meine Schwester.
    »Wie eine Klapperschlange.«
    Das gefiel Hal. »Genau«, sagte er, wobei ihm Visionen von seiner Jazzcombo, der größten aller Zeiten, im Kopf herumtanzten.
    Meine Mutter kam auch nach unten. Als sie das Zimmer betrat, sah sie zuerst meinen Vater. Wortlos versuchte sie ihm mitzuteilen, dass es ihr gut ging, dass sie die Luft noch atmen konnte, mit der großen Höhe fertig wurde.
    »Okay, Leute!«, rief meine Großmutter aus der Küche. »Samuel will was sagen, also setzt euch hin!«
    Alle lachten, und ehe sie sich in ihr verschlosseneres Selbst zurückzogen - weil diese Zusammenkunft schwer für sie war, auch wenn sie sie sich gewünscht hatten -, trat Samuel neben Grandma Lynn ins Zimmer. Sie trug ein Tablett mit Champagnerflöten, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Er warf Lindsey einen kurzen Blick zu.
    »Lynn wird mir beim Einschenken helfen«, sagte er.
    »Davon versteht sie was«, erwiderte meine Mutter.
    »Abigail?«, sagte Grandma Lynn.
    »Ja?«
    »Es ist schön, dich zu sehen.«
    »Dann mal los, Samuel«, sagte mein Vater.
    »Ich wollte sagen, dass ich glücklich bin, hier mit euch allen zusammen zu sein.«
    Aber Hal kannte seinen Bruder. »Das reicht nicht, du Versschmied. Buck, der Besen.« Diesmal ließ Hal Buckley ohne seine Hilfe spielen, und mein Bruder begleitete Samuel.
    »Ich wollte sagen, dass ich froh bin, dass Mrs. Salmon wieder zu Hause ist, und dass es mir eine Ehre ist, ihre wunderschöne Tochter zu heiraten.«
    »Hört, hört!«, sagte mein Vater.
    Meine Mutter stand auf, um Grandma Lynn das Tablett abzunehmen, und gemeinsam verteilten sie die Gläser.
    Während ich meinen Angehörigen beim Champagnerschlürfen zuschaute, dachte ich daran, wie ihr Leben von meinem Tod voran- und zurückgetrieben
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