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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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worden war und nun, als ich sah, dass Samuel den wagemutigen Schritt tat, Lindsey in einem Zimmer voller Familienangehöriger zu küssen, hoch über ihn hinweggetragen wurde.
    Dies waren die delikaten Gebeine, die im Zuge meiner Abwesenheit entstanden waren: Verbindungen - manche zart, manche um einen hohen Preis geknüpft, aber oft großartig -, zu denen es nach meinem Verschwinden kam. Und ich begann, die Dinge auf eine Weise zu sehen, die mich die Welt ohne mich darin begreifen ließ. Die Ereignisse, die mein Tod bewirkte, waren lediglich die Knochen eines Körpers, der in unvorhersehbarer Zukunft wieder intakt sein würde. Der Preis für das, was ich jetzt als diesen wunderbaren Körper sah, war mein Leben gewesen.
    Mein Vater schaute die Tochter an, die da vor ihm stand. Die Schattentochter war verschwunden.
    Mit dem Versprechen, dass Hal ihm nach dem Essen Trommelwirbel beibringen würde, legte Buckley Besen und Schlägel weg, und alle sieben marschierten langsam durch die Küche ins Esszimmer, wo Samuel und Grandma Lynn mit dem guten Geschirr gedeckt hatten, um ihr Markenzeichen zu servieren, Stouffer's Tiefkühl-Lasagne und Tiefkühl-Käsekuchen von Sara Lee.
    »Da ist jemand an der Tür«, sagte Hal, der durch das Fenster einen Mann sah. »Es ist Ray Singh!«
    »Lass ihn rein«, sagte meine Mutter.
    »Er geht schon wieder.«
    Alle bis auf meinen Vater und meine Großmutter, die im Esszimmer zusammenblieben, machten sich daran, ihm nachzulaufen.
    »Hallo, Ray!«, sagte Hal, der die Tür öffnete und dabei fast in den Apfelkuchen trat. »Warte doch!«
    Ray drehte sich um. Seine Mutter saß bei laufendem Motor im Auto.
    »Wir wollten nicht stören«, sagte Ray jetzt zu Hal. Lindsey und Samuel und Buckley und eine Frau, in der er Mrs. Salmon erkannte, drängten sich auf der Veranda.
    »Ist das Ruana?«, rief meine Mutter. »Bitte sie doch herein.«
    »Nein, das ist schon in Ordnung«, sagte Ray und machte keine Anstalten, näher zu kommen.
Ob Susie wohl zuschaut?
, fragte er sich.
    Lindsey und Samuel lösten sich aus der Gruppe und kamen auf ihn zu.
    Meine Mutter war inzwischen den Weg zur Einfahrt entlanggegangen und beugte sich ins Autofenster, um mit Ruana zu reden.
    Ray sah seine Mutter an, als sie die Wagentür aufmachte, um ins Haus zu gehen. »Keinen Apfelkuchen für uns beide«, sagte sie zu meiner Mutter, während sie den Weg hoch spazierten.
    »Arbeitet Dr. Singh?«, fragte meine Mutter.
    »Wie üblich«, antwortete Ruana.
    Sie sah Ray zusammen mit Lindsey und Samuel ins Haus treten. »Werden Sie wieder stinkende Zigaretten mit mir rauchen?«
    »Abgemacht«, sagte meine Mutter.
    »Willkommen, Ray, setz dich«, sagte mein Vater, als er ihn durchs Esszimmer kommen sah. Er hatte einen speziellen Ort in seinem Herzen für den Jungen, der seine Tochter geliebt hatte, doch Buckley stürzte sich auf den Stuhl neben ihm, ehe sonst jemand zu ihm gelangte.
    Lindsey und Samuel holten zwei Stühle aus dem Wohnzimmer und stellten sie an die Anrichte, um sich dort hinzusetzen. Ruana saß zwischen Grandma Lynn und meiner Mutter, und Hal saß allein an einem Tischende.
    In diesem Augenblick wurde mir klar, dass sie nicht merken würden, wann ich verschwand, ebenso wenig, wie sie gemerkt hatten, dass ich manchmal auf einem bestimmten Zimmer gelastet hatte. Buckley hatte mit mir gesprochen und ich mit ihm. Selbst wenn ich nicht wusste, dass ich mit ihm redete, hatte ich es getan. Ich manifestierte mich in jeder Erscheinungsform, in der sie mich sehen wollten.
    Und da war sie wieder, allein auf einem Gang durchs Maisfeld, während alle anderen, die mir wichtig waren, zusammen in einem Zimmer saßen. Sie würde mich immer spüren und an mich denken. Das wusste ich, doch es gab nichts mehr, das ich tun konnte. Ruth war ein von Geistern verfolgtes Mädchen gewesen, und nun würde sie eine von Geistern verfolgte Frau sein. Ersteres per Zufall, Letzteres durch eigenen Entschluss. Alles, die Geschichte meines Lebens, stand ihr zur Verfügung, falls sie sie erzählen wollte, und sei es nur einem einzelnen Menschen.
    Gegen Ende des Besuchs von Ruana und Ray fing Samuel an, von dem Haus im Gothic-Revival-Stil zu reden, das er und Lindsey an einem überwucherten Abschnitt der Route30 entdeckt hatten. Als er Abigail im Detail davon berichtete, ihr beschrieb, wie er gespürt hatte, dass er Lindsey einen Heiratsantrag machen und dort mit ihr leben wollte, fragte Ray plötzlich: »Hat es im hinteren Zimmer ein großes Loch in der
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