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Frau Holle ist tot

Frau Holle ist tot

Titel: Frau Holle ist tot
Autoren: Roland Stark
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Prolog
    Ich wollte, dass mir’s
gruselte, aber niemand kann mich’s lehren.
    Das Sonnenlicht hatte seine Kraft verloren. Die Kälte
kroch den Berghang herunter und nistete sich überall ein. In seinem Parka, im
Wollpulli, den Mama für ihn gestrickt hatte, und unter dem spitzen Filzhut, den
er von Opa geerbt hatte. Überall die Kälte.
    Der große Junge hatte sich in der Baumkrone auf der
Plattform aus Brettern niedergekauert. Von hier oben konnte er das Haus gut
beobachten.
    Mama hatte gesagt, er solle zu Tante Sylvia gehen.
Mama war vom Wolf gebissen worden, und jetzt war er ganz allein.
    Ein Vater hatte zwei Söhne, davon
war der älteste klug und gescheit und wusste sich in alles wohl zu schicken,
der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die
Leute sahen, sprachen sie: »Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!«
    Wenn er an seinen Vater dachte, wurde er ganz böse.
Der Fromm hatte ihn geschlagen und ihn ins Heim stecken wollen. Deswegen hatte
Mama den Fromm allein gelassen und war mit ihm in das Haus im Wald gezogen.
Doch jetzt war sie vom roten Wolf gebissen worden.
    Seit Stunden saß er im Baumhaus, das Frau Holle für
ihn hatte bauen lassen, damals, als er sie noch häufiger besuchte. Er wartete
darauf, dass etwas passierte, dass sie endlich kamen. Er überlegte, ob er die
Leiter runterklettern und noch einmal in das Haus gehen sollte oder nicht. Mama
hatte gesagt, er solle zu Tante Sylvia gehen. Aber er wollte lieber oben im
Baum sitzen und das Haus beobachten. Frau Holle konnte ihm nicht mehr helfen.
    Er dachte daran, was er an diesem Tag erlebt hatte. Am
Morgen hatte er Frau Holle besucht. Er hatte nichts Böses tun wollen.
    Wenn du alle Arbeit im Hause
ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du musst nur achtgeben, dass du
mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen.
    Nun wartete der Junge auf die Polizei, Stunde um
Stunde.
    Was sind das für gottlose Streiche,
die muss dir der Böse eingegeben haben.
    Statt der Polizei kam ein Mädchen zu Frau Holle.
    Endlich kam es zu einem kleinen
Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward
ihm angst, und es wollte fortlaufen.
    Er war sicher, dass das Mädchen bald wieder gehen
würde. Aber das Mädchen blieb.
    Weil die Alte ihm so gut zusprach,
so fasste sich das Mädchen ein Herz.
    Frau Holle bekam oft Besuch von Mädchen. Das Mädchen,
das Frau Holle an diesem Tag besuchen wollte, war ein besonders hübsches. Der
große Junge änderte seine Pläne. Er wartete, bis es dunkel wurde, und dann noch
eine ganze Weile, bis die Lichter in den Nachbarhäusern verloschen. Dann ging
er hinunter zum Haus, um nach dem Mädchen zu suchen. Er fand es vor der
Eingangstür und nahm es mit. Er war groß und stark und das Mädchen leicht und
schmächtig. Es war ganz einfach.
    Danach machten sie sich alle
zusammen auf den Weg nach dem Wald.
    Im Wald war es dunkel, aber das störte ihn nicht, denn
er kannte alle Wege. Beleuchtete Straßen wollte er lieber nicht benutzen. Oben
auf dem Berg machte er eine Pause. Er setzte sich neben das Mädchen auf eine
Bank und schaute ins Tal. Das Mädchen war ganz kalt und rührte sich nicht.
    Wart, sprach er, ich will dich ein
bisschen wärmen. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an: aber um
Mitternacht ging der Wind so kalt, dass er trotz des Feuers nicht warm werden
wollte.
    Schließlich brach er wieder auf. Er nahm das Mädchen,
warf es über seine Schulter, lief über die Wiese und dann den Hang hinunter zu
seinem Haus im Wald.

Sonntag, 23. Oktober
    Irgendjemand hatte ein Kissen aufgeschlitzt und
Daunenfedern über der Szenerie verteilt.
    Die zierliche Frau saß auf einem Sofa, das mit rotem
Plüsch bezogen war. Bekleidet war sie mit einem Nachthemd, ihre Arme waren
angewinkelt und wurden auf beiden Seiten von weißen Kissen gestützt. Die Hände
waren vor dem Bauch wie zum Gebet gefaltet. Um ihren Hals schlängelte sich ein
violett-braunes Band von Blutergüssen, der Kopf war zur Seite gekippt. Die weit
aufgerissenen Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen und blickten ins
Leere. Das Gesicht der toten Frau hatte einen bläulichen Schimmer und wirkte
aufgedunsen.
    Rechts und links der Leiche saßen Stoffpuppen: Kasper
und Gretel, Räuber und Polizist, Rotkäppchen und der Wolf, die sieben Geißlein.
Vor dem Sofa waren Tierfiguren aus Kunststoff aufgebaut, die Bewohner eines
ganzen Zoos. Esel, Hund, Katze und
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