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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel
Autoren: Alice Sebold
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Kopf an mich. Wir küssten uns. Das Wasser strömte zwischen unseren Körpern herab und nässte das spärliche Haar auf seiner Brust und seinem Bauch. Ich küsste ihn, weil ich Ruth sehen wollte und Holly und weil ich wissen wollte, ob sie mich sehen konnten. Unter der Dusche konnte ich weinen, und Ray konnte meine Tränen küssen, ohne genau zu wissen, warum ich sie vergoss.
    Ich berührte und betastete ihn am ganzen Körper. Ich schmiegte meine Handfläche um seinen Ellbogen. Ich zupfte mit den Fingern an seinem Schamhaar. Ich nahm den Körperteil in die Hand, den Mr. Harvey in mich gestoßen hatte. In meinem Kopf sagte ich das Wort
sanft
, und dann sagte ich das Wort
Mann
.
    »Ray?«
    »Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll.«
    »Susie.«
    Ich legte ihm meine Finger auf die Lippen, damit er nicht weiter nachfragte. »Erinnerst du dich an das Briefchen, das du mir geschrieben hast? Erinnerst du dich, dass du dich den Mohren nanntest?«
    Einen Augenblick lang standen wir beide da, und ich beobachtete, wie das Wasser über seine Schultern perlte und dann hinabglitt.
    Ohne noch etwas zu sagen, hob er mich hoch, und ich schlang meine Beine um ihn. Er trat aus dem Wasserstrahl, um sich auf dem Rand der Wanne abzustützen. Als er in mir war, packte ich sein Gesicht und küsste ihn so ungestüm, wie ich konnte.
    Nach einer Minute machte er sich los. »Erzähl mir, wie es dort aussieht.«
    »Manchmal sieht es aus wie die Highschool«, sagte ich atemlos. »Ich bin zwar nie dorthin gegangen, aber in meinem Himmel kann ich in den Klassenzimmern ein Freudenfeuer machen oder die Flure auf- und abrennen und dabei so laut schreien, wie ich will. Doch es sieht nicht immer so aus. Es kann auch aussehen wie Nova Scotia oder Tanger oder Tibet. Es sieht wie alles aus, was du dir je erträumt hast.«
    »Ist Ruth auch da?«
    »Sie übt sich gerade in der freien Rede, aber sie kehrt zurück.«
    »Kannst du dich selbst dort sehen?«
    »Momentan bin ich hier«, sagte ich.
    »Aber du wirst bald wieder weg sein.«
    Ich wollte nicht lügen. Ich neigte den Kopf. »Ich glaube, ja, Ray.«
    Dann liebten wir uns. Wir liebten uns in der Wanne und im Schlafzimmer und unter den Lampen und den nachgemachten, im Dunkeln leuchtenden Sternen. Während er sich ausruhte, küsste ich ihn aufs Rückgrat und segnete jeden Muskelknoten, jeden Leberfleck, jedes Muttermal.
    »Geh nicht«, sagte er, und seine Augen, jene strahlenden Juwelen, schlossen sich, und ich verspürte den flachen Atem seines Schlafs.
    »Ich heiße Susie«, flüsterte ich, »Nachname Salmon, Lachs, wie der Fisch.« Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und schlief neben ihm ein.
    Als ich die Augen aufmachte, war das Fenster uns gegenüber dunkelrot, und ich fühlte, dass nicht mehr viel Zeit war. Die Welt draußen, die ich so lange beobachtet hatte, lebte und atmete auf derselben Erde, auf der ich mich jetzt befand. Doch ich wusste, dass ich nicht hinausgehen würde. Ich hatte diese Auszeit genommen, um mich zu verlieben. Mich in eine Art Hilflosigkeit zu verlieben, die ich im Tode nicht empfunden hatte - die Hilflosigkeit, lebendig zu sein, den dunkel leuchtenden Jammer des Menschseins - in dem man sich vortastet, in Ecken herumtappt und die Arme dem Licht entgegenstreckt. All das Teil einer Navigation im Unbekannten.
    Ruths Körper wurde schwächer. Ich stützte mich auf einen Arm und sah Ray beim Schlafen zu. Ich wusste, ich würde bald gehen müssen.
    Als er kurz darauf die Augen öffnete, schaute ich ihn an und zeichnete die Umrisse seines Gesichts mit den Fingern nach.
    »Denkst du jemals an die Toten, Ray?«
    Er blinzelte und blickte mich an.
    »Ich studiere Medizin.«
    »Ich meine keine Leichen oder Krankheiten oder kollabierte Organe, ich meine das, worüber Ruth spricht, ich meine uns.«
    »Manchmal denke ich an sie«, sagte er. »Ich habe immer mehr über sie wissen wollen.«
    »Wir sind hier, weißt du«, sagte ich. »Ständig. Du kannst mit uns reden und an uns denken. Es muss nicht traurig oder beängstigend sein.«
    »Darf ich dich noch mal anfassen?« Er schüttelte sich die Laken von den Beinen, um sich aufzusetzen.
    In dem Augenblick sah ich etwas am Fußende von Hals Bett. Es war wolkig und reglos. Ich versuchte, mir einzureden, es sei ein Streich, den das Licht mir spielte, eine Masse von Staubteilchen in der untergehenden Sonne. Aber als Ray nach mir griff, spürte ich nichts.
    Ray beugte sich zu mir und küsste mich leicht auf die Schulter. Ich fühlte es nicht.
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