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Binärcode

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Titel: Binärcode
Autoren: Christian Gude
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Prolog

     
    Er hielt die Fernbedienung in der Hand wie der Junkie die Pumpe. Keine Frage, er konnte aufhören, wann immer er wollte. Außerdem war es Freitagabend, am nächsten Morgen würde er ausschlafen, er hatte nichts vor, abgesehen von ein paar Besorgungen im Baumarkt. Nur zehn Minuten, nur mal schnell durchzappen, dann rasch ins Bett, damit er morgens frisch und ausgeschlafen war. Auf den Tasten herumspielend zauderte Rünz ein paar Sekunden, unentschlossen, ob er der Versuchung nachgeben sollte. Dann entschied er, dass Askese letztlich doch die unsympathischste Spielart menschlicher Süchte war. Er schaltete das Gerät ein, ließ sich in den Sessel fallen und klickte durch die Kabelprogramme, aber die Batterien seiner Fernbedienung gaben sich seinem Zapping-Exzess bald geschlagen. Träge und unfähig aufzustehen, war er einer Arte-Dokumentation über den Kriegsfotografen James Nachtwey ausgeliefert. Der Reporter stand mit einem Laboranten in einer Dunkelkammer, beide diskutierten einen noch tropfnassen, großen Schwarz-Weiß-Abzug. Das Foto zeigte einen zehn- oder zwölfjährigen Afrikaner, den Kopf kahl rasiert und übersäht mit den Schrunden und Narben des Überlebenskampfes, im Hintergrund unscharf die vom Bürgerkrieg verwüstete, menschenleere Straße im Außenbezirk irgendeiner afrikanischen Großstadt – Mogadischu, Luanda, Brazzaville oder Abidjan. Aus ästhetischer Perspektive war die Aufnahme überaus raffiniert komponiert, das Gesicht des Jungen am unteren Bildrand angeschnitten, nur Augen und Schädel sichtbar. Er schien wie traumatisiert mit starrem Blick an Kamera und Fotograf vorbeizuschauen, konzentriert darauf, irgendwie die nächsten Stunden zu überstehen. Nachtwey gab dem Laboranten immer wieder Anweisungen für das optimale Abwedeln des Hintergrundes bei der Vergrößerung des Negativs, der Assistent erstellte einen Abzug nach dem anderen, eine schier endlose Prozedur, bis der Fotograf endlich mit dem Ergebnis zufrieden war.
    Die nächste Einstellung zeigte die gleiche Aufnahme, gerahmt, an einer weiß gekalkten Wand, auf einer Ausstellung, irgendwo in einem alten, umgewidmeten Lagergebäude der Chelsea Piers auf der Westseite Manhattans. Zwei Besucherinnen diskutierten engagiert die Bildkomposition, beide in präzise kalkuliertem Schmuddel-Look, den sie mit exklusiven Accessoires geschickt kontrapunktierten. Eine der Frauen deckte immer wieder Bereiche des Fotos mit der flachen Hand ab, wie um sich der Wahl des perfekten Ausschnittes zu vergewissern.
    Rünz öffnete sich eine Flasche Pfungstädter Schwarzbier, nahm einen großen Schluck und prostete dem Afrikaner zu. Der Junge hatte das Maximum erreicht, was ein Mensch in seiner Situation erreichen konnte – er war zur Bildikone eines saturierten New Yorker Vernissagen-Publikums geworden.

Binärcode

     
    Das Projektil schlug wenige Zentimeter links neben dem Kommissar in flachem Winkel auf und riss eine Wolke schallschneller mikrofeiner Betonpartikel aus dem rissigen, alten Industrieboden, die ihm an Knöcheln, Händen und Gesicht jeden Quadratzentimeter unbedeckter Haut perforierten. Wie ein flacher Stein auf dem Wasser prallte das Geschoss ab, setzte seine durch den Drallverlust instabile Flugbahn laut pfeifend fort, landete irgendwo östlich des Knell-Geländes in der Gewerbezone zwischen Frankfurter Straße und Messplatz. Rünz kicherte trotz seiner misslichen Lage, er stellte sich vor, wie der Staatsanwältin im Schottener Weg das heiße deformierte Metallklümpchen durch das offene Fenster direkt auf den Schreibtisch segelte, bereit zur Asservierung. Kalt   war ihm, und er hatte Angst. Er kauerte sich noch enger mit dem Rücken an den schützenden Stapel teergetränkter alter Eisenbahnschwellen und wendete den Kopf nach rechts, um sein Gesicht zu schützen. Als hätte der Sniper Rünz’ Bewegung vorausgeahnt, platzierte er den nächsten Treffer auf der anderen Seite der Deckung. Diesmal erwischte der Betonschrot den Kommissar bei geöffneten Augen frontal im Gesicht. Er schrie auf, griff reflexartig mit den Fingern nach seinem Kopf und zog sie sofort wieder zurück, weil ihm jede Berührung der Augen unerträgliche Schmerzen bereitete. Dutzende Splitter hatten sich fest in seine Hornhaut eingebrannt und machten jede mechanische Reibung zur Qual. Aber er konnte den Lidreflex nicht unterdrücken. Jedes Mal, wenn sich die Augen schlossen, fühlte er sich, als bearbeitete jemand mit grobkörnigem Schleifpapier seine Pupillen.
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