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Binärcode

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Titel: Binärcode
Autoren: Christian Gude
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wahrscheinlich bewunderte er morgens beim Rasieren seine Schönheit und probte markante Gesichtsausdrücke, vielleicht nahm er einen zweiten Spiegel zur Hilfe, um sein Profil zu begutachten. Und in zehn Jahren würde er in Baden-Baden ein kleines Frischzellensanatorium für solvente Senioren eröffnen. Ganz sicher verursachte er einigen Aufruhr und Zickereien unter dem weiblichen Pflegepersonal im Darmstädter Klinikum.
    Der Mediziner hatte die Betonung auf ›Verletzungen‹ gelegt, so klang es wie die Einleitung eines Vortrages, der ein paar unangenehme Überraschungen bereithielt.
    »Sie hatten durch ihren Sturz bedingt eine Gehirnprellung, ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades. Ihre retrograde Amnesie beschränkt sich auf ein oder zwei Stunden, Sie haben keine neurologischen Ausfälle mehr. Können Sie mir Ihren gestrigen Tagesablauf schildern ?«
    Rünz beantwortete die Frage routiniert, ohne sich exakt zu erinnern. Der Vortag war sicher nicht anders verlaufen als die restlichen Tage seines Klinikaufenthaltes.
    »Ihre Prognose ist gut, Spätfolgen des Traumas sind unwahrscheinlich. Sie sollten sich in den nächsten zwei bis drei Monaten noch Ruhe gönnen, Stress und Lärm vermeiden, möglichst kein Fernsehen, kein Alkohol .«
    Rünz runzelte die Stirn. Wenn es irgendein probates Mittel gab, sich Ruhe zu gönnen, dann war es ein Kombinationspräparat aus einem Nachmittag auf dem Schießstand, einer Doppelfolge ›Walker, Texas Ranger‹ und einigen Flaschen Pfungstädter Schwarzbier.
    »Was Ihre Hornhautverletzungen angeht, da haben Sie insgesamt ziemliches Glück gehabt. Die meisten der Perforationen sind weniger als einen Millimeter groß, das Gewebe wird an diesen Stellen aufquellen und mit der Zeit von selbst heilen. Die wenigen tieferen Wunden haben wir chirurgisch versorgt. Halten Sie unbedingt die Medikamentierung mit den Antibiotika streng ein, eine Endophthalmitis kann Sie Ihr Augenlicht kosten! Na ja, der Rest sind Prellungen und Schürfwunden, nichts Gravierendes .«
    Einige Sekunden herrschte Schweigen zwischen Arzt und Patient.
    »Aber ?« , fragte Rünz. »Sie sagten am Anfang, dass mit meinen Verletzungen so weit alles in Ordnung ist .«
    »Richtig. Wir haben in den letzten Tagen ein ziemlich umfassendes Untersuchungsprogramm mit Ihnen gefahren, ist Ihnen wohl nicht entgangen .«
    »Jesus, ich dachte, Sie hätten mich nur als Dummy benutzt, um Ihre Geräte zu testen .«
    »Wir haben in Ihrem Gehirn eine Anomalie gefunden, im äußeren Bereich Ihres Großhirns. Im Frontallappen, um genau zu sein.«
    Der Adonis rotierte auf seinem Hocker, nahm eine Aufnahme aus einer Mappe auf seinem Schreibtisch und wandte sich wieder Rünz zu. Das Bild zeigte den Vertikalschnitt eines menschlichen Kopfes, und unter den gegebenen Umständen musste Rünz davon ausgehen, dass es sein eigener war. Er studierte fasziniert die graue Masse unter der Schädelkalotte – hier lag sie vor ihm, die Hardware seiner Seele, ein paar Milliarden synaptischer Schaltkreise, in denen alles gespeichert und abrufbar war, von seiner Aversion gegen Nordic Walker über seine neurotische Angst vor dem Erbrechen bis zu der tiefen Befriedigung, die er spürte, wenn er sich mit seinen Waffen beschäftigte. Rünz hatte sich in 25 Berufsjahren intensiv mit rechtsmedizinischen Fragestellungen auseinandergesetzt, er konnte die Anomalie, die der Mediziner meinte, sofort identifizieren. Zwischen Stammhirn und vorderer Begrenzung des Stirnbeins leuchtete ein haselnussgroßer heller Fleck, der sich klar von der homogenen grauen Masse seines Großhirns abhob und vom umgebenden Gewebe scharf abgrenzte.
    »Sie meinen das Ding hier ?«
    Rünz legte den Finger auf den Fleck.
    »CT, MRT, Angiografie – alles deutet auf ein Astrozytom hin, eine Form von Geschwulst, die aus den Stützzellen des zentralen Nervensystems entsteht. Eine der häufigsten raumgreifenden Gewebeveränderungen des Gehirns – im mittleren Lebensalter.«
    Immerhin, er hatte nicht von der zweiten Lebenshälfte gesprochen. Der junge Held schien irgendwie um den Begriff ›Tumor‹ herumzuschiffen. Rünz hatte als Patient jetzt eigentlich die Gretchenfrage nach der Bösartigkeit zu stellen, aber ihn beschäftigte etwas anderes. Er fühlte sich gekränkt. Der Stationsarzt war mindestens zehn Jahre jünger als er. Die Diagnose einer vielleicht letalen Erkrankung hätte er sich lieber von einem erfahrenen Chefarzt mitteilen lassen, mit alters- und standesgemäßem Pathos und Schwere in
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