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Binärcode

Binärcode

Titel: Binärcode
Autoren: Christian Gude
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Die Hände zum Schutz an die Schläfen gelegt, spähte er durch die Finger nach links zu dem Verwundeten. Der Mann lag einer fetten Made gleich auf dem Bauch und versuchte vergeblich, seinen mächtigen schlaffen Körper mit der Kraft seiner Arme zu Rünz hinter die Deckung zu ziehen. Anfangs war er dem Kommissar nur dick erschienen, aber sein Leib schien unter dem Einfluss innerer Blutungen von Minute zu Minute weiter anzuschwellen. Er hatte die Jeanshose in den Kniekehlen hängen, sein riesiger pickliger Hintern sah in der kalten Winterluft aus wie eine gerupfte Putenbrust.
    Rünz zog sein Handy aus der Jackentasche. Die Verletzungen der Hornhaut hatten ihm die scharfe Nahsicht geraubt, weder auf seiner Armbanduhr noch auf den Tasten und dem Display konnte er irgendetwas erkennen, wahrscheinlich war bei seinem Hechtsprung das Gerät ohnehin beschädigt worden. Mehrmals versuchte er blind, eine Verbindung herzustellen – ohne Erfolg. Er tastete den Boden um sich herum ab. Der Ausrichtung und Tiefe der Kerben nach zu urteilen, die die Geschosse im Beton hinterließen, musste der Sniper irgendwo westlich auf erhöhter Position auf der Lauer liegen. Rünz war womöglich dicht an ihm vorbeigelaufen, als er vom Sensfelder Weg das Knell-Gelände betreten hatte. Die alte Brachfläche mit ihren leeren Backsteinhallen, Laderampen und dem dichten Buschwerk war der ideale Ort für einen Hinterhalt. Vielleicht lag er auf dem Dach einer der verfallenen Werkhallen, kaum fünfzig Meter entfernt. Wenn er weiter weg war, schoss er nach Pythagoras von höherer Position aus, dann kam eigentlich nur der alte Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg infrage, der wie eine gigantische versteinerte Spitzmorchel die Silhouette des Areals dominierte. Seine Präzision auf diese Entfernung war über jeden Zweifel erhaben, sie setzte erstklassiges Material und eine hervorragende Ausbildung voraus. Nur beim ersten Schuss hatte der Jäger gepatzt. Rünz hatte neben dem Verwundeten gekniet, als ihm die Kugel um die Ohren flog, er hatte sich mit einem Satz hinter den Schwellenstapel gerettet. Der Kommissar stellte überschlägige Berechnungen an, kombinierte die Sekundenbruchteile, mit denen der gedämpfte Mündungsknall dem Aufprall der Kugel folgte, mit der Mündungsgeschwindigkeit eines hochwertigen Repetierers und entschied sich für den Hochbunker.
    Der Angeschossene lag knapp drei Meter neben ihm im freien Gelände, der Schütze hätte ihm längst den Fangschuss geben können. Offensichtlich brauchte er ihn als lebenden Köder, um Rünz aus der Deckung zu locken. Aber Heldentum war dem Ermittler fremd. Er versuchte, die Zeitspanne abzuschätzen, seit er auf dem Parkplatz des Baumarktes in der Otto-Röhm-Straße mit der Zentrale gefunkt hatte. Das Präsidium hatte ihn über einen Notruf von einem Mobiltelefon unterrichtet, aber der Anrufer war außerstande gewesen, seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Rünz hatte das zersplitterte Handy neben dem Verwundeten gesehen und sich gewundert, dass der Dicke in diesem Zustand mit seinen Wurstfingern überhaupt die drei Zahlen auf der Tastatur getroffen hatte. Die Kollegen konnten die Signalquelle auf das Knell-Gelände eingrenzen. Rünz hatte zugesagt, nach dem Rechten zu schauen, und war um 9.30 Uhr vom Baumarkt losgefahren, im Kofferraum einige Regalböden, mit denen er etwas Ordnung in die explodierende esoterische Privatbibliothek seiner Frau bringen wollte. Er hatte rund zehn Minuten gebraucht, um auf der Suche nach einem Zugang im Schritttempo um das Gelände herumzufahren, hatte schließlich die Zufahrt zum Sensfelder Weg direkt hinter dem Müllheizkraftwerk gefunden und, als er fast schon wieder auf dem Carl-Schenck-Ring stand, das Loch im übermannshohen Bretterzaun entdeckt, der das ganze Areal umgab. Danach vielleicht noch einmal zehn Minuten, bis er die Baracken inspiziert und den Angeschossenen auf der Freifläche entdeckt hatte. Also mochte es jetzt ungefähr 9.50 Uhr sein. Seine Zentrale würde in zehn Minuten vergeblich versuchen, ihn anzufunken, dann würden sie es ohne Erfolg auf seinem Mobiltelefon versuchen . Um spätestens 10.10 Uhr würde sich eine Streife oder ein Kollege aus seinem Team aufmachen, um nach ihm zu suchen. Er hatte also noch gut und gerne zwanzig Minuten Überlebenskampf vor sich, bevor er mit professioneller Unterstützung rechnen konnte.
    Der Schlot des Müllheizkraftwerkes südlich der Brachfläche blies stoisch seine Rauchfahne in den Himmel. Rünz spielte
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