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Binärcode

Binärcode

Titel: Binärcode
Autoren: Christian Gude
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verschiedene Szenarien durch. Variante eins war der Heldentod. Er konnte die Deckung verlassen, sich einen Arm des verwundeten Riesen nehmen und versuchen, ihn beiseite zu ziehen. Der Schütze hatte ihn dann wie auf dem Präsentierteller und konnte sich in aller Ruhe überlegen, ob er ihn gleich terminierte oder lieber etwas leiden ließ, indem er ihm zuerst die Kniescheiben zerschoss. Das Ergebnis war ein Begräbnis in allen Ehren, mit Anwesenheit des Polizeipräsidenten, eine Witwe, die bei einem seelenverwandten Veganer aus ihrer Pilatesgruppe Trost suchte, und einige Kollegen, die ein paar Tage ein betretenes Gesicht machten, bevor sie zum Tagesgeschäft übergingen. Ach ja, und natürlich sein Schwager Brecker, der alles daransetzen würde, Rünz’ großkalibrige Ruger in seine Waffensammlung aufzunehmen.
    Variante zwei führte zum gleichen Resultat, allerdings ohne dass Rünz die Deckung verließ. Der Schütze hatte seit einer halben Minute nicht gefeuert, vielleicht hatte er den Turm längst verlassen und schlich in aller Ruhe wie ein Großwildjäger mit seiner Langwaffe durch das Gestrüpp, um die waidwunde Beute Auge in Auge zu erledigen. Für diesen Fall hatte Rünz allerdings eine kleine Überraschung präsent – er war bewaffnet. Nicht mit seiner Dienstwaffe, die P6 lag im Waffenschrank im Präsidium, das Schulterholster war ihm zu unbequem im Alltagseinsatz. Aber er hatte sich zum bevorstehenden 45. Geburtstag mit einem kompakten 38er LadySmith beschenkt, einer wunderschön brünierten Waffe mit Wurzelholzgriff und zweizölligem Lauf, die er in einem Lederholster am Unterschenkel trug. Eine kleine Schwester für seine großkalibrige Ruger Super Redhawk. Das mit dem Knöchelholster hatte er sich Richard Widmark in ›Nur noch 72 Stunden‹ abgeschaut. Rünz liebte amerikanische Polizeifilme aus den Sechzigern. Alle rauchten ständig, niemand trieb Sport, ohne Unterlass boten sich Menschen gegenseitig hochprozentige Drinks an, Frauen ließen sich von Männern widerstandslos mit ›Kleines‹ anreden und jeder Polizist trug als Zweitwaffe in einem Holster an seinem Unterschenkel einen handlichen Smallframe aus dem Hause Smith & Wesson. Ein Paradies.

     
    Der Dicke hatte aufgehört zu kriechen, den Bewegungen seines Rückens nach zu urteilen wurde sein Atem unregelmäßiger. Rünz hörte von Südosten Sondersignale von Einsatzfahrzeugen, die sich über die Frankfurter Straße näherten. Womöglich hatte er Glück, und einer der Obdachlosen, die sich nachts in die Baracken auf dem Gelände zum Schlafen zurückzogen, hatte die Szene verfolgt und seine Kollegen alarmiert. In einer der Hallen stand die Halfpipe einer Skaterclique, hoffentlich schliefen die Kids samstags um diese Uhrzeit noch in ihren Mittelschicht-Eigenheimen ihren THC-Rausch aus, ein unbedarfter Teenager mit muffigen Dreadlocks war das Letzte, was er hier in der Schusslinie brauchte. Die Sondersignale kamen näher, mindestens drei oder vier Fahrzeuge, Rünz hätte aufstehen müssen, um über das Dickicht nach Osten zu spähen und etwas zu erkennen. Die Signale wurden wieder leiser, die Kolonne war wohl nach Osten Richtung Messplatz abgebogen, zum Hundertwasserhaus oder dem Berufsschulzentrum. Ein paar Minuten lang passierte überhaupt nichts. Der Dicke hatte aufgehört zu atmen. Der Kommissar resignierte. Dann hörte er ihre Stimme.

     
    »ERR RUUUNZ!«

     
    Er zuckte zusammen, drehte sich um und spähte durch einen der Schlitze zwischen den Schwellen. Es gab nur einen Menschen, der seinen Namen so aussprach. Seine französische Kollegin Charlotte de Tailly stand auf halbem Weg zwischen dem Bunker und ihm, auf freiem Feld, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie schaute sich um und rief nach ihm, ein offenes Scheunentor hätte kein schwierigeres Ziel abgegeben. Rünz schrie, seine Stimme überschlug sich, statt ›Deckung‹ brachte er nur ein unendlich gedehntes ›DEEEECKOOOOO‹ heraus, er schrie, als könne er mit seinen Stimmbändern den Kurs des Projektils beeinflussen, er schrie auch dann noch, als die Französin konsterniert ein rotes Loch in ihrem Brustbein registrierte, aus dem hellrotes, sauerstoffgesättigtes Blut wie aus einem kleinen Geysir spuckte.
    Der Kommissar kannte aus zahlreichen Untersuchungen die Auswirkungen überschallschneller Metallgeschosse, die auf menschliche Körper trafen. Selbst der Impuls eines 44er Magnum-Kalibers reichte nicht aus, um einen erwachsenen Menschen allein durch die Wucht des Projektils
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