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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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Der Halbmarathon
    E inen Tag vor dem Wettkampf reise ich zu den Weltmeisterschaften im Halbmarathon in der Schweiz an. Meine Aufgabe ist es, dort Athleten zu betreuen, die von meinem Arbeitgeber – einem amerikanischen Sportartikelhersteller – gesponsert werden.
    Ich werde auch selbst dort laufen und meinen ersten Wettkampf absolvieren, der über die Zehn-Kilometer-Marke hinausgeht. Neben den Weltmeisterschaften gibt es einen gesonderten Lauf, an dem jeder, der möchte, teilnehmen kann. Dort werde ich starten.
    Ausdauersport begleitet mich, seitdem ich drei Jahre alt bin. Damals nahm mein Paps mich zu einem Wettkampf mit, und ich bin meine ersten achthundert Meter gelaufen. Stolz trug ich anschließend die Medaille um den Hals. Diese Liebe zum Sport und die Erinnerungen an Laufveranstaltungen gehören wohl zu meinen eindrücklichsten Erlebnissen meiner Kindheit.
    In der Schweiz wohne ich mit einer kenianischen Läuferin in der Wohnung eines Bekannten. Wir kochen dort zusammen und haben viel Spaß. Auch wenn die Kenianerin wenig Englisch und gar kein Deutsch spricht, unterhalten wir uns mit Händen und Füßen und verbringen eine sehr lustige und kurzweilige Zeit miteinander.
    Am Abend vor dem Wettkampf treffe ich viele Eliteathleten bei einem großen Abendessen. Es ist interessant, diesen Menschen zu begegnen, und noch interessanter ist es zu sehen, dass keiner dieser Weltklasseläufer Starallüren hat. Der Abend motiviert mich noch mehr für den kommenden Tag. Unter all diesen Spitzenläufern fühle ich mich zwar einerseits winzig klein, aber andererseits genieße ich auch das erhebende Gefühl, all diese Leute kennenzulernen.
    Am nächsten Morgen bin ich so nervös, dass ich meine Arbeit nicht gut mache. Ich bin keine große Hilfe für die Läufer, nehme zu wenig Rücksicht auf sie und habe das Gefühl, sie noch nervöser zu machen, als sie es ohnehin sind.
    Nervös und aufgeregt verfolgen mein Kollege Pieter und ich auf der großen Leinwand im Zielbereich, was auf der Laufstrecke passiert. Leider kommt keiner »unserer« Athleten aufs Treppchen, und ein wenig Enttäuschung macht sich breit. Aber unsere kenianischen Schützlinge haben ein sonniges Gemüt, und so reichen ein paar aufmunternde Worte meinerseits, um ihnen ein Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern.
    Meine Miene hingegen verfinstert sich immer mehr, je näher mein Rennen rückt. Ich renne vor lauter Nervosität andauernd zur Toilette und bin unruhig. Wie wird wohl so ein langer Lauf sein? Kann ich das Tempo richtig einteilen? Kann ich genügend Nahrung und Getränke aufnehmen, um durchzuhalten? Fragen über Fragen in meinem Gedankenkarussell.
    Dann geht es endlich los. Ich bin froh, an den Start gehen zu können. Im Block der Amateure bereite ich mich auf das Rennen vor. In meinem Inneren breitet sich eine Mischung aus Vorfreude, Angst und Stolz aus.
    Kurz vor dem Start treffe ich völlig unerwartet auf einen alten Bekannten eines Triathlonvereins meiner Heimatstadt, der inzwischen in der Schweiz wohnt. Wir laufen gemeinsam los. Er gehört zu den schnelleren Läufern, und auch die Athleten um mich herum ziehen mich mit. Ohne es zu merken, gehe ich den Halbmarathon viel zu schnell an.
    Als ich das erste der Schilder erreiche, die mit Kilometerangaben die Strecke säumen, bin ich erstaunt: Ich habe den ersten Kilometer in weniger als fünf Minuten zurückgelegt. Das ist mehr als nur zu schnell. Ich verlangsame abrupt mein Tempo und werde von einer scheinbar endlosen Anzahl von Läufern überholt. Ich versuche, es gelassen hinzunehmen, auch wenn es mir schwerfällt. Bei den folgenden Kilometerschildern freue ich mich, weil ich bei einem Schnitt von knapp unter sechs Minuten pro Kilometer jetzt genau im Zeitplan liege. Bis fast zur Hälfte der Strecke – bei Kilometer zehn – fühle ich mich total gut und genieße einfach nur das Lauferlebnis.
    Ein junger Läufer schließt zu mir auf. Wir laufen plaudernd nebeneinanderher und beschließen, gemeinsam die Ziellinie zu überqueren. Fünf Kilometer vor dem Ziel wollen wir das Tempo etwas verschärfen. Endspurt! Wir stellen das Plaudern ein, um uns ganz auf das Laufen zu konzentrieren und die dadurch gewonnene Luft für unser schnelleres Lauftempo zu nutzen.
    Kurze Zeit später verspüre ich ein Druckgefühl auf der Brust, so, als ob mir jemand den Brustkorb zusammendrückt. Plötzlich kann ich nicht mehr wirklich durchatmen und drossle mein Tempo. Angst kriecht in mir hoch, denn diese Luftnot und den
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