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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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gut geht, muss ich im Februar einen weiteren Schock verkraften, als ich auf meinem Schreibtisch eine betriebsbedingte Kündigung finde. Ich bin ab sofort freigestellt, das heißt, ich kann, nein, ich muss die Arbeit sofort niederlegen. Von jetzt auf gleich. Ich bin fassungslos, sprachlos, hoffnungslos. Mein Arbeitgeber, ein Hersteller von Sportartikeln, verlegt die deutsche Distribution in die Niederlande und schließt das Büro in Deutschland. Obwohl ich im internationalen Marketing tätig bin, trifft mich diese Veränderung; mein Aufgabenbereich wird künftig von den Kollegen der Mutterfirma in den USA übernommen.
    Ich kann die Realität der Kündigung nur schwer fassen. Meine Arbeit ist nicht nur irgendeine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu sichern. Ich mache diesen Job mit Leidenschaft. Meine Aufgabe ist es, Athleten zu betreuen – und das ist für mich ein Traum und die ideale Verbindung von Beruf und Privatleben. Dieser Job ist mein Lebensinhalt, neben dem Sport.
    Was mich besonders erschreckt, ist, dass kein Mensch das Rückgrat besitzt, mir die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen, die Kündigung von Angesicht zu Angesicht auszusprechen. Ich bin enttäuscht, wütend, frustriert und unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken in meinen Kopf zu bekommen.
    Still packe ich meine persönlichen Sachen zusammen und gehe. Meinen Gefühlen – den Tränen – lasse ich erst freien Lauf, als ich im Auto sitze und nach Hause fahre. Ich fühle mich, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Es sollte nicht das einzige Mal in diesem Jahr sein, dass dieses Gefühl Besitz von mir nimmt.
    Zuhause gibt es an diesem Abend nur Musik und eine bis mehrere Flaschen Bier. Ich fühle mich wie gelähmt, und nur mit vernebeltem Verstand ertrage ich die Situation irgendwie. Ich muss damit klarkommen, da habe ich keine Wahl. Aber ich bin gefallen, von einem Moment auf den anderen. Dass dies nicht mein tiefster Fall sein wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise nicht.
    Am nächsten Morgen weicht die Lähmung meinem im Grunde genommen unerschütterlichen Optimismus. Wieder bei klarem Verstand, kommt mir der führende Hersteller von Herzfrequenzmessgeräten mit Sitz in der Nähe von Darmstadt in den Sinn, der seit über einem Jahr Interesse an meiner Mitarbeit zeigt.
    Das Glück ist auf meiner Seite: Am ersten März trete ich meine neue Stelle im Verkaufsinnendienst der Firma an. Ich bin keinen Tag arbeitslos. Mein Optimismus war mal wieder berechtigt.
    Die neue Arbeit macht mir Spaß, obwohl die Kollegen zunächst recht verschlossen sind. Ich halte mich an Michael, einen alten Bekannten von mir, der bei der Firma im Außendienst tätig ist und dessen Gebiet ich auf seinen Wunsch hin im Innendienst betreue. Und ich halte mich an meine Kunden, die ich bereits durch meinen alten Arbeitsplatz kenne. Die Sportbranche ist klein, und man trifft immer wieder auf dieselben Personen. Das tut gut und erleichtert den Einstieg in den neuen Job ungemein. Aber schon bald lockert sich auch das Verhältnis zu meinen Kollegen, und ich fühle mich rundum wohl.
    Auch in meinem Privatleben gibt es in dieser Zeit einige einschneidende Neuerungen. Es ist ziemlich turbulent. Mein Lebensabschnittsgefährte und ich trennen uns nach mehr als vier Jahren Beziehung und wagen es dennoch, mit zwei gemeinsamen Freunden eine Wohngemeinschaft in einem Haus zu gründen.
    Ich bin so sehr damit beschäftigt, zu renovieren, umzuziehen, mich einzuarbeiten und mich von meinem Partner zu trennen, dass es mir leichtfällt, meine Herzfrequenz und die Kapriolen, die diese für mich bereithält, zu ignorieren.
    Doch mein Herz lässt die Ignoranz nicht lange zu: Mein Termin im Klinikum Großhadern steht an. Ich bin nervös. Glücklicherweise wohnt eine Kollegin vom Außendienst in München ganz in der Nähe des Klinikums und bietet mir eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit an. Damit erspare ich mir einiges an Stress, da ich bereits am Abend vor dem Termin anreisen kann. Die Kollegin ist beruflich unterwegs, und ich verbringe die Nacht allein in einer fremden Wohnung auf einem überdimensionalen blauen Sofa. Ich schlafe schlecht; zu sehr beschäftigt mich die anstehende Untersuchung. Das Klingeln des Weckers ist eine Art Erlösung.
    Der Termin in der Klinik verläuft nach Schema F: Aufnahme, Ausfüllen mehrerer Fragebögen, Blutentnahme, Schreiben eines Elektrokardiogramms, grundsätzliche Überprüfung des allgemeinen
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