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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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genommen.
    Ermutigt von dem positiven Gesprächsverlauf stelle ich ihm die für mich wichtigste Frage: »Kann ich an dem Marathon, der in zwei Wochen stattfindet, teilnehmen?«
    Seine Antwort ist kurz und knapp: »Sie sind alt genug, um zu wissen, wie wertvoll Ihnen das Leben ist.«
    Damit verabschiedet er sich.
    Zwiegespalten zwischen Gefühlen der Angst und der Hoffnung, zwischen Vernunft und Willenskraft entscheide ich mich für die Teilnahme am Marathon in Frankfurt. Ich beschließe, diese Entscheidung mit niemandem zu diskutieren und niemanden um Rat zu fragen.
    Die kommenden zwei Wochen lebe ich mit einer kleinen Lüge. Natürlich haben Freunde, Familie und Kollegen mitbekommen, dass ich gesundheitlich angeschlagen bin. Viele fragen mich, ob ich trotzdem am Marathon teilnehme – und ich verneine.
    Ich fühle mich schlecht, weil ich unehrlich bin. Und weil ich genau weiß, dass eine Teilnahme wider jegliche Vernunft ist. Ich hadere mit mir. Zudem stolpert mein Herz mich allabendlich in den von Albträumen geschüttelten Schlaf.
    Am Freitag vor dem Wettkampf hole ich meine Startunterlagen ab – mit Tränen in den Augen. Ich weiß, dass es unvernünftig ist, und bin verzweifelt. Was soll ich nur tun?
    Am Samstag bin ich zerrissen, von Zweifeln zernagt. Ich sehe mir im Fernsehen den Wetterbericht an; stürmisch, regnerisch und kalt soll es werden. Ich packe meine Tasche: Energieriegel, Getränke, Bekleidung, Laufschuhe. Ich koche mir eine riesige Portion Nudeln und schaue mir noch einmal die Wettervorhersage an. Rational spricht alles gegen eine Teilnahme. Wer möchte schon an einem Sonntag um fünf Uhr aufstehen und 42,195 Kilometer von eisigen, nassen Windböen durchgeschüttelt werden? – Ich möchte das, mehr als alles andere!
    Nach zwei Stunden unruhigen Schlafes fahre ich Sonntag los, in Richtung Frankfurt. Der Wind weht so heftig, dass mein Auto während der Fahrt richtig durchgeschüttelt wird. Regen klatscht gegen die Scheiben. Für eine Zehntelsekunde bereue ich, nicht auf meinen Verstand gehört zu haben.
    Als ich die Halle mit den vielen Läufern betrete, wird mir klar, dass ich auf dieses Erlebnis nicht hätte verzichten wollen. Ich genieße die Atmosphäre und sauge sie auf wie ein Schwamm. Es riecht nach Massageöl. Überall liegen Bananenschalen und leere Verpackungen von Energieriegeln. Die Luft knistert. Die Anspannung ist jedem einzelnen Läufer ins Gesicht geschrieben. Die pure Aufregung durchströmt meinen Körper. Die Stimme der Vernunft hat Pause.
    Als der Startschuss fällt, regnet es in Strömen. Es stört mich nicht im Geringsten. Im Gegenteil, jeder Regentropfen in meinem Gesicht spornt mich nur mehr an.
    Die ersten drei Kilometer schieben sich die Massen dicht gedrängt durch das Bankenviertel Frankfurts. Die Häuser erscheinen heute noch höher als sonst. So hoch wie das Gefühl, von dem ich getragen werde. Bei Kilometer fünf hört es auf zu regnen, und ich nehme mir zum ersten Mal ein Getränk und ein Stück Banane am Verpflegungsstand. Um durchhalten zu können, habe ich mir vorgenommen, von Anfang bis Ende des Laufs keine Verpflegungsstation auszulassen.
    Ich hätte nie gedacht, dass Laufen so viel Spaß machen kann. Ich laufe meistens gerne, aber dieses Marathon-Erlebnis ist nicht vergleichbar mit all den anderen Laufkilometern, die ich in meinem Leben schon zurückgelegt habe. Die Lauflust hat mich vollends gepackt. Ich genieße jeden einzelnen meiner Schritte.
    Inzwischen hat sich die Sonne einen Weg durch die Wolken gebahnt. Die Strecke in Frankfurt bietet sehr viel Abwechslung. Meine Blicke und Gedanken schweifen an der Strecke entlang, und nur selten riskiere ich den Blick auf die Uhr. Mein ursprünglicher Ehrgeiz, das Ziel in einer Zeit von unter vier Stunden zu erreichen, hat sich aufgrund des Stolperns meines Herzens in den letzten Wochen in Luft aufgelöst.
    Je näher ich Kilometer dreißig komme, desto mehr macht sich ein kleines Gefühl der Angst breit. Unter Marathonläufern erzählt man sich, dass irgendwann zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Laufkilometer der berühmte »Mann mit dem Hammer« kommt. Der liegt irgendwo auf der Lauer, überrascht jeden Läufer genau dann, wenn er ihn nicht erwartet, und verursacht einen Kompletteinbruch.
    Doch anscheinend hat der »Mann mit dem Hammer« Erbarmen mit mir. Die nächsten zehn Kilometer schaffe ich ohne größere Probleme. Die Füße schmerzen zwar, und ich will gar nicht darüber nachdenken, wie viele Blasen sich
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