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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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Druck im Oberkörper habe ich in meinem Leben noch nie erlebt.
    Mein Laufkollege versucht, mich mitzuziehen und spornt mich mit dem Spruch an: »Komm, du schaffst das!«
    Doch ich muss vor meiner Atemnot kapitulieren. Ich kann das Tempo nicht durchhalten. Es geht einfach nicht. Ich schicke den jungen Mann weiter, was mir in dem Moment fast wie eine Befreiung erscheint, denn so kann ich mein eigenes Tempo weiterlaufen. Ich werde immer langsamer, schnaube wie ein Walross, und allmählich fangen meine Arme und Beine an zu kribbeln. Sauerstoffmangel. Nur nicht gehen. Immer weitertraben. Es sind nur noch zwei Kilometer.
    Es werden die längsten zwei Kilometer meines Lebens. Wie in Trance bewegen sich die Beine. Immer eines vor das andere. Mit jedem Schritt aber werden meine Beine schwerer. Bald kann ich sie kaum mehr spüren. Die Sohlen meiner Laufschuhe schleifen über den Boden. Wie aus der Ferne höre ich den Zuruf meines Kollegen Pieter: »Hey 3D, nur noch ein Kilometer!« Ich freue mich über das Anfeuern, doch in meinem Kopf ist nur noch ein Gedanke: ankommen!
    Dann sind es noch tausend Meter – ungefähr eintausendfünfhundert Schritte bis ins Ziel. Der Weg scheint endlos zu sein. Inzwischen spüre ich weder Arme noch Beine und japse immer heftiger nach Luft. Aufzugeben kommt mir jedoch nicht in den Sinn. Dafür habe ich zu viel trainiert, zu viele Hoffnungen in dieses Rennen gesteckt, und ich habe in meinem Sportlerleben noch niemals einen Wettkampf nicht beendet. Der Weg ist das Ziel, die Zeit wird zur Nebensache.
    Meinen Blick richte ich nach vorne und beginne, meine Schritte zu zählen. Eins, zwei, drei, … Dann endlich sehe ich es, in großen Buchstaben steht auf einem Banner: Z, I, E, L. Ich buchstabiere das Wort leise vor mich hin, motiviere mich damit selbst.
    Und dann überquere ich die Ziellinie.
    Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Alles um mich herum läuft ab wie im Film. In meinem Kopf ist absolute Leere – keine Freude, kein Stolz. Meine Arme und Beine sind bläulich gefärbt, mein Gesicht ist weiß wie Schnee. Bloß nicht hinsetzen, sonst komme ich nie wieder hoch. Pieter hängt mir meine Jacke um, und meine kenianischen Schützlinge bringen mir Tee, Wasser und Bananen. Verkehrte Welt, denn schließlich bin ich hier, um sie zu betreuen, und nicht umgekehrt. Aber es tut gut, so umsorgt zu werden.
    Irgendwie schaffe ich es unter die Dusche. Mit dem warmen Wasser kehren meine Lebensgeister langsam zurück.
    Dennoch bin ich froh, dass Pieter sich bereit erklärt, den Wagen nach Hause zu fahren. Die Heimreise ist lang. Als wir schließlich fahren, ist es dunkel, und ich bin müde wie nie zuvor. Doch ich kann keine Sekunde schlafen. Mein Herz stolpert vor sich hin, und ich verspüre eine nie gekannte innere Unruhe.
    Diese Unruhe wird am nächsten Tag vom Alltag verdrängt. Und endlich macht sich ein Gefühl von Glück und Stolz über den absolvierten Halbmarathon in mir breit. Ich bin zwar nicht ganz die geplante Zeit gelaufen, aber ich bin angekommen. Und ich habe gekämpft, um das Ziel zu erreichen – mit aller Kraft, die in mir steckt.
    Abends hänge ich mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher ab und versuche abzuschalten. Doch je müder Körper und Geist werden, desto unruhiger hämmert mein Herz. Ich kann es nicht mehr ignorieren. Und ich spüre wieder ein leichtes Gefühl der Angst, das ich so nicht kenne.
    Was ist los mit mir? Bin ich übertrainiert? Soll ich vielleicht zum Arzt gehen? Nein, den letzten Gedanken zerschlage ich sofort wieder. Denn möglicherweise könnte ein Arzt mir von einem Marathon abraten. Und der steht schließlich schon bald bevor. In vier Wochen.
    Ich trainiere also weiter und schiebe die Trainingseinheiten immer weiter in den späten Abend hinein, um nicht auf den unruhigen Rhythmus meines Herzens lauschen zu müssen, sobald ich daheim zur Ruhe komme.
    Ich greife zu allen möglichen Hausmittelchen, um nachts einigermaßen zu schlafen. Doch viel hilft es nicht: Ich habe mit Schlaflosigkeit zu kämpfen, die mich nicht nur körperlich müde macht.
    Auch nach Tagen ist mein Zustand nicht besser geworden – im Gegenteil: Beim Training kämpfe ich gegen Atemnot an, Schlaflosigkeit und Unruhe machen mich gereizt und aggressiv. Also bleibt mir wohl doch nichts anderes übrig, als einen Arzt zu konsultieren.
    Nach einer kurzen Unterhaltung und einer Untersuchung teilt mir die Ärztin Frau Seifert mit, dass sie meinen Beschwerden mit einem Langzeit- EKG auf den Grund gehen
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