Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
an Zehn kleine Negerlein mit ins Grab nehmen.
    Agatha Christie war Borkmans Fluch, den der Norweger nicht eben
stoisch ertrug – er hasste sie und beklagte sich
bitterlich über sie –, aber weil er das Haus mit Agatha Christie und
vergleichbar seichten Unterhaltungsstücken ihrer Zeitgenossen voll bekam,
durfte der morbide Norweger alljährlich zum Ausgleich »etwas Ernstes« als
Herbststück auf die Bühne bringen.
    »Etwas Ernstes, passend zur Jahreszeit der fallenden Blädder«, sagte
Borkman – wobei er mit dem Wort »Blädder« andeutete, dass er der Sprache seiner
neuen Heimat im Großen und Ganzen, wenn auch unvollkommen, mächtig war. (Das
war Nils in Reinkultur – im Großen und Ganzen verständlich, wenn auch unvollkommen.)
    Bei jenem freitäglichen Vorsprechen, bei dem Richard Abbott so
manche Weichen stellen sollte, verkündete Nils, das »etwas Ernste« dieses
Herbstes werde wieder einmal sein geliebter Ibsen sein und die zur Wahl stehenden Stücke habe er auf lediglich drei begrenzt.
    »Welche drei?«, fragte das junge Talent Richard Abbott.
    »Die drei Problem stücke«, antwortete Nils – nähere Kenntnis voraussetzend.
    »Damit meinen Sie sicherlich Hedda Gabler und Nora «, riet Richard richtig. »Und das dritte
dürfte dann wohl Die Wildente sein?«
    An Borkmans untypischer Sprachlosigkeit sahen wir alle, dass die
(gefürchtete) Wildente in der Tat das dritte
Wahldrama des sauertöpfischen Norwegers war.
    [40]  »Wenn dem so ist«, wagte sich Richard Abbott nach allgemeinem
verräterischen Schweigen vor, »frage ich mich, wer von uns vielleicht für die
Rolle der todgeweihten Hedvig in Frage käme – dieses armen Kindes.« Bei jenem
freitagabendlichen Vorsprechen waren keine vierzehnjährigen Mädchen anwesend –
niemand, der auch nur im Entferntesten für die Rolle der unschuldigen, Enten
(und ihren Erzeuger) liebenden Hedvig in Frage gekommen wäre.
    »Wir hatten auch früher schon gewisse… Schwierigkeiten mit der Rolle
der Hedvig, Nils«, warf Grandpa Harry diplomatisch ein. Lieber Himmel – und
wie! Da hatte es tragikomische Vierzehnjährige gegeben, so gottserbärmlich
miserable Schauspielerinnen, dass das Publikum gejohlt hatte, als ihre Zeit gekommen war, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen! Es
hatte dermaßen bestechend naive und unschuldige Vierzehnjährige gegeben, dass
das Publikum den Regisseur ausgebuht hatte, als sie
sich erschossen!
    »Und dann ist da noch Gregers«, warf Richard Abbott ein. »Dieser
elende Moralapostel. Ich könnte den Gregers geben, aber nur als lästigen
Dummkopf – als selbstgerechte und selbstmitleidige Clownsfigur!«
    Nils Borkman pflegte die Selbstmordgefährdeten unter seinen
Landsleuten gerne als »Fjordspringer« zu bezeichnen. Offenbar bot Norwegens
Fjordreichtum überreichlich Gelegenheit zu praktischen und sauberen
Selbstmorden. (Wie viel deprimierender muss es für Nils gewesen sein
festzustellen, dass es in Vermont, das zweihundert Meilen landeinwärts lag,
keine Fjorde gab.) Jetzt bedachte Nils Richard Abbott mit einem so furchterregenden
Blick, als [41]  erwarte unser depressiver Regisseur von dem Jungtalent, sich in
den nächstbesten Fjord zu stürzen.
    »Aber Gregers ist ein Idealist «, setzte
Borkman an.
    »Wenn Die Wildente eine Tragödie ist, dann
ist Gregers ein Dummkopf und ein Hampelmann – und Hjalmar nichts weiter als ein
eifersüchtiger Ehemann von der jämmerlichen Bevor-sie-mich-kannte-Sorte«, entgegnete
Richard. »Wenn man Die Wildente andererseits als
Komödie gibt, dann sind alle miteinander Dummköpfe
und Clownsfiguren. Aber wie kann ein Stück eine Komödie sein, wenn ein Kind an
der Prinzipienreiterei der Erwachsenen zerbricht? Es braucht eine herzzerreißende
Hedvig, eine völlig unschuldige und naive Vierzehnjährige; und nicht nur
Gregers, sondern auch Hjalmar und Gina, und sogar Frau Sørby, der alte Ekdal
und der schurkische Werle müssen blendende Schauspieler
sein! Selbst dann noch hat das Stück viele Schwächen – nicht gerade die beste
Voraussetzung für eine Inszenierung durch eine Laientruppe, wie man sich denken
kann.«
    »Schwächen?«, krächzte Nils Borkman, als
hätte man auf ihn (samt seiner Wildente) geschossen.
    »In der letzten Aufführung war ich Frau Sørby«, vertraute mein
Großvater Richard an. »Als ich jünger war, spielte ich natürlich die Gina –
wenn auch nur ein- oder zweimal.«
    »Ich hatte an die junge Laura Gordon als Hedvig gedacht«, sagte
Nils. Laura war die jüngste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher