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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Harry Marshall konnte Richard Abbott
nichts vom Bühnenerfolg des Holzhändlers in Frauenkleidung ahnen.)
    »Die meisten Knaben haben nicht die leiseste Ahnung, wie man Frauen
darstellt – das kann ein ganzes Stück ruinieren«, sagte Richard.
    »Ach«, meinte Grandpa Harry. »Wie packen Sie die Sache denn an?«
    »Ich habe vor, die jüngeren Lehrerehefrauen zum Vorsprechen zu
laden«, erwiderte Richard, »und vielleicht die älteren Töchter.«
    »Ach«, meinte Grandpa Harry wieder. »Vielleicht kämen ja auch andere Mitbürger dafür in Frage?«, schlug er vor; er hatte
schon immer Rehan oder Goneril spielen wollen, »die verabscheuungswürdigen
Töchter des Lear«, wie er sie nannte. (Ganz zu schweigen von seinem
unstillbaren Verlangen, einmal im Leben Lady Macbeth sein zu dürfen!)
    »Vielleicht wird es ein offenes Vorsprechen geben«, sagte Richard
Abbott. »Aber hoffentlich wirken die älteren Frauen nicht einschüchternd auf
die Eleven an einer reinen Knabenschule.«
    »Ach ja – die Gefahr besteht leider«, sagte Grandpa Harry mit
wissendem Lächeln. Als ältere Frau war er unendlich oft einschüchternd gewesen; Harry Marshall [37]  brauchte sich nur seine Frau und seine älteste
Tochter anzusehen, um sich von ihnen das Gebaren einschüchternder Frauen
abzuschauen. Aber mit dreizehn bekam ich nichts vom Gerangel um neue
Frauenrollen mit; das Gespräch zwischen Grandpa Harry und dem neuen
Hauptdarsteller erschien mir rein freundschaftlich und ungezwungen.
    An jenem Freitagabend im Herbst (Rollenbesetzungen fanden immer
freitagabends statt) fiel mir nur auf, wie sich die Dynamik zwischen unserem
diktatorischen Theaterdirektor und unserer unterschiedlich (bis gar nicht)
talentierten angehenden Besetzung dank Richards Abbotts Theaterkenntnis wie
auch seiner schauspielerischen Begabung veränderte. Noch nie zuvor war der
strenge Regisseur der First Sister Players als Dramaturg herausgefordert gewesen; der Leiter unseres kleinen Theaters, der von sich
behauptete, kein Interesse an »bloßer Schauspielerei« zu haben, war kein Laie
auf dem Gebiet der Dramaturgie, sondern verehrte als selbsternannter
Ibsen-Experte seinen Landsmann abgöttisch.
    Unser vordem unangefochtener Regisseur Nils Borkman – der bereits
erwähnte Norweger, zudem Grandpa Harrys Teilhaber und als solcher Forstwirt,
Holzhändler und Dramaturg in einem – war der
Inbegriff skandinavischer Depression und melancholisch-trüber Gemütsverfassung.
Der Holzhandel war Nils Borkmans Tagesgeschäft (oder zumindest sein Brotberuf),
doch die Dramaturgie war seine Leidenschaft.
    Der umfassende Pessimismus des Norwegers erhielt dadurch zusätzliche
Nahrung, dass das ungebildete Theaterpublikum von First Sister wenig Ahnung von
literarisch [38]  anspruchsvollem Drama hatte. In unserem kulturell unterentwickelten
Gemeinwesen setzte man eisern auf einen Spielplan mit vornehmlich
Agatha-Christie-Stücken (die sogar bis zum Erbrechen bejubelt wurden). Nils
Borkman litt sichtlich unter den nicht enden wollenden Adaptierungen
anspruchsloser Schmonzetten à la Mord im Pfarrhaus, einem Miss-Marple-Krimi. Meine erhaben klingende Tante Muriel hatte schon oft
die Miss Marple gespielt, die Einwohner von First Sister jedoch bevorzugten
Grandpa Harry in dieser verschrobenen (aber ach so femininen) Rolle. Harry
wirkte glaubwürdiger beim Aufspüren von anderer Leute Geheimnissen – und, seit
er in Miss Marples Alter war, auch femininer.
    Bei einer Probe hatte Harry aus einer Laune heraus gesagt – so als
nähme er Miss Marple das Wort aus dem Mund: »Donnerlittchen, aber wer würde
Colonel Protheroes Tod herbeiwünschen ?«
    Worauf meine Mutter, die ewige Souffleuse, angemerkt hatte: »Daddy,
der Satz steht aber nicht im Text.«
    »Ich weiß, Mary – war nur Spaß«, gab Grandpa zurück.
    Meine Mutter, Mary Marshall – Mary Dean (in jenen unglücklichen vierzehn Jahren vor ihrer Heirat mit Richard Abbott)
nannte meinen Großvater immer Daddy. Von meiner sich etepetete gebenden Tante
Muriel wurde er ausnahmslos mit Vater angeredet, und
zwar mit der gleichen Smoking-und-Abendkleid-Stimme, mit der Nana Victoria
ihren Gatten unermüdlich Harold, nicht etwa Harry rief.
    Nils Borkman führte Regie bei Agatha Christies
»Publikumslieblingen«, wie er sie spöttisch abtat, als wäre er vom Schicksal
dazu verdonnert, sich noch am Abend seines [39]  Todes Der Tod
auf dem Nil oder Das Haus auf der Düne anzusehen – und müsste ausgerechnet seine unauslöschliche Erinnerung
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