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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Tochter der Gordons. Jim Gordon gehörte ebenfalls
zum Lehrkörper der Favorite River Academy; er und seine Frau Ellen spielten
schon länger bei den First Sister Players mit, und zwei ihrer [42]  älteren
Töchter hatten sich bereits in der Rolle der armen Hedvig erschossen.
    »Entschuldige bitte, lieber Nils«, warf meine Tante Muriel ein,
»aber Laura Gordon hat einen unübersehbaren Busen.«
    Also hatte ich nicht als Einziger die erstaunliche Entwicklung der
Vierzehnjährigen bemerkt; obgleich Laura nur ein knappes Jahr älter war als
ich, übertrafen ihre Brüste bei weitem alles, was an einer unschuldigen und
naiven Hedvig dran sein sollte.
    Nils Borkman aber sagte mit einem geradezu suizidalen Stoßseufzer zu
Richard: »Und welchen Ibsen erachtet der junge Mr. Abbott als einfacher von bloß uns Sterblichen und Laien aufzuführen?«
Nils meinte natürlich »von uns bloßen Sterblichen«.
    »Ach…«, setzte Grandpa Harry an, verstummte aber gleich wieder. Mein
Großvater genoss das alles. Er hegte die denkbar größte Hochachtung vor und
Zuneigung zu Nils Borkman als Geschäftspartner; aber in seiner Eigenschaft als
Regisseur war er ein unverbesserlicher Tyrann, egal, wie engagiert die First
Sister Players spielten. (Außerdem hing uns Henrik Ibsen, samt Borkmans Vorstellungen
von literarisch anspruchsvoller Dramatik, fast genauso
zum Hals raus wie Agatha Christie!)
    »Tja…«, setzte Richard Abbott an. Und nach einer kurzen Denkpause:
»Wenn es ein Ibsen sein soll – und wir sind schließlich nur Laien –, dann
entweder Hedda Gabler oder Nora. In Hedda kommen gar keine Kinder vor und in Nora nur in unwichtigen Nebenrollen. Natürlich braucht man
eine sehr starke und komplexe Frau – in beiden
Stücken – [43]  und die üblichen Männer, die schwach oder unsympathisch sind oder beides. «
    »Schwach oder unsympathisch oder beides ?«,
echote Nils Borkman ungläubig.
    »Heddas Ehemann Jørgen ist lasch und konventionell – eine
unangenehme, aber unter Männern recht weitverbreitete Kombination«, fuhr
Richard Abbott fort. »Eilert Løvborg ist ein unsicherer Schwächling, während
Richter Brack – wie der Name schon sagt – ein Scheusal ist. Erschießt Hedda
sich nicht, weil ihr klar wird, was für eine Zukunft ihr sowohl mit ihrem
laschen Gatten als auch dem abscheulichen Brack
bevorsteht?«
    »Können Norweger eigentlich auch etwas anderes als sich erschießen,
Nils?«, fragte mein Großvater spitzbübisch. Harry wusste, auf welche Knöpfe man
bei Nils drücken musste; der ließ sich diesmal jedoch zu keiner weiteren
Fjordspringer-Geschichte verleiten und ignorierte seinen alten Freund und
frauendarstellenden Geschäftspartner einfach. (Grandpa Harry hatte schon oft
die Hedda gespielt und auch die Nora – doch jetzt war er für beide weiblichen
Hauptrollen zu alt.)
    »Und mit welchen… Schwächen und anderen
unsympathischen Charakterzügen sind die Männerrollen in Nora behaftet, wenn ich den jungen Mr. Abbott fragen darf?«, brachte Borkman endlich
stotternd und händeringend hervor.
    »Ehemänner kommen bei Ibsen nicht besonders gut weg«, gab Richard
Abbott zurück, diesmal ohne Denkpause und mit der ganzen Selbstgewissheit der
Jugend und eines frisch abgeschlossenen Studiums. »Also – Torvard [44]  Helmer,
Noras Mann, ist Heddas Mann nicht unähnlich. Auch er ist langweilig und
konventionell – und die Ehe mit ihm erstickend. Krogstad wurde übel
mitgespielt, noch dazu ist er korrupt; zwar verfügt er über einen gewissen
ausgleichenden Anstand, aber das Wort Schwächling fällt einem auch zu Krogstad ein.«
    »Und Dr. Rank?«, fragte Borkman.
    »Dr. Rank spielt keine große Rolle. Wir brauchen eine Nora oder eine
Hedda«, sagte Richard. »In Heddas Fall: eine Frau, der ihre Freiheit so viel
bedeutet, dass sie sich umbringt, um sie nicht zu verlieren; ihr Selbstmord ist
keine Schwäche, sondern eine Demonstration sexueller Stärke. «
    Unglücklicherweise – oder auch glücklicherweise, wie man’s nimmt –
warf Richard genau in dem Moment Tante Muriel einen Blick zu. Trotz ihres guten
Aussehens und prachtvollen Busens einer Operndiva war Muriel kein Ausbund an sexueller Stärke; sie fiel in Ohnmacht.
    »Muriel – lass um Himmels willen das Getue!«, rief Grandpa Harry,
doch Muriel hatte (bewusst oder unbewusst) erkannt, dass sie keine ebenbürtige
Partnerin für das selbstbewusste Jungtalent, den kommenden neuen Star vom Typ
männlicher Hauptdarsteller, war. Sie hatte sich rein
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