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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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Morgenversammlung an der Favorite River Academy saß, hörte ich
den Schularzt Dr. Harlow uns Jungen dazu auffordern, die in unserem zarten
Alter weitestverbreiteten Heimsuchungen mit der Wurzel auszurotten. (Er sagte Heimsuchungen, das hab ich nicht erfunden.) Unter diesen
»am weitestverbreiteten« Heimsuchungen verstand Dr. Harlow, wie er ausführte,
Akne und »ein unangebrachtes erotisches Hingezogensein zu anderen Jungen oder
Männern«. Gegen unsere Pickel gäbe es diverse [48]  Heilmittel, versicherte uns
Dr. Harlow. Was frühe Anzeichen homosexueller Neigungen anging – nun, darüber
würden sich entweder Dr. Harlow oder der Schulpsychologe Dr. Grau jederzeit
gerne mit uns unterhalten.
    »Derlei Beschwerden sind heilbar«, versicherte Dr. Harlow uns Knaben
im Brustton der Überzeugung und mit einer Stimme, die ebenso fachmännisch wie
(hauptsächlich) einschmeichelnd klang, wie eine inständige, von Mann zu Mann
vorgetragene Bitte. Und Dr. Harlows Ansinnen war selbst dem unreifsten Neuling klar
wie Kloßbrühe: Ein Wort von uns genügte, und er würde uns heilen.
(Peinlicherweise war ebenso klar, dass wir es selbst ausbaden mussten, wenn wir
es nicht taten.)
    Später sollte ich mich fragen, ob es etwas ausgemacht hätte – das
heißt, wenn ich Dr. Harlows (oder Dr. Graus) Humbug zu der Zeit ausgesetzt
gewesen wäre, als ich Richard Abbott kennenlernte, und nicht erst zwei Jahre
später. Mit meinem heutigen Wissen hege ich berechtigte Zweifel daran, dass
meine Schwärmerei für Richard heilbar war, obgleich
Dr. Harlow, Dr. Grau und ihresgleichen – die damals verfügbaren medizinischen
Autoritäten – ausdrücklich glaubten, sie fiele in die Kategorie heilbarer
Beschwerden.
    Zwei Jahre nach jener schicksalhaften Rollenbesetzung kam jede
Heilmethode zu spät; auf der vor mir liegenden Lebensbahn stand mir eine nicht
abreißende Kette von Schwärmereien bevor. Jenes freitagabendliche Vorsprechen
machte mich mit Richard Abbott bekannt; jedem Anwesenden (nicht zuletzt Tante
Muriel mit ihren zweimaligen Ohnmachtattacken) war klar, dass von nun an
Richard die Fäden unserer Truppe in der Hand hatte.
    [49]  »Offensichtlich brauchen wir eine Nora, oder eine Hedda, wenn wir
überhaupt einen Ibsen bringen wollen«, sagte Richard zu Nils.
    »Aber die Blädder ! Sie verfärben sich
schon; bald werden sie von den Bäumen fallen«, sagte Borkman. »Es ist die
sterbende Jahreszeit!«
    Er war nicht immer leicht zu verstehen, außer wenn man sich vor
Augen hielt, dass Borkmans Vorlieben für Ibsen und Fjordspringen irgendwie mit
dem ernsten Drama verknüpft waren, welches wir
regelmäßig im Herbst aufführten – und natürlich mit der Sterbezeit des Jahres,
wenn die Blädder unaufhaltsam von den Bäumen fallen.
    In der Rückschau erscheint die damalige Zeit natürlich so harmlos –
sowohl die sterbende Jahreszeit als auch jene relativ unkomplizierte Phase
meines Lebens.

[50]  2
    Für die Falschen schwärmen
    Wie lange dauerte es nach diesem erfolglosen Vorsprechen,
bis meine Mom und der junge Richard Abbott ein Paar wurden? »So wie ich Mary
kenne, haben sie es garantiert sofort getan «, hörte
ich zufällig Tante Muriel sagen.
    Meine Mutter hatte es nur einmal gewagt, ihre Heimat zu verlassen;
sie hatte ein College besucht (nie verriet jemand, welches) und vorzeitig
wieder verlassen. Sie hatte es nur geschafft, schwanger zu werden; sie hatte
nicht einmal die Sekretärinnenschule beendet! Außerdem hatten meine Mutter (wie
auch ihr beinahe unehelicher Sohn) vermutlich aus Gründen der Konvention – fünfzehn
Jahre lang den Nachnamen Dean getragen, was ihren Mangel an Eigenständigkeit noch
unterstrich.
    Mary Marshall Dean wagte es nicht, ihre Heimat ein zweites Mal zu
verlassen; dafür hatte die Welt sie zu schwer gezeichnet. Sie lebte mit meiner
zornigen, hoffnungslos konventionellen Großmutter zusammen, die gegenüber ihrem
schwarzen Schaf von einer Tochter genauso kritisch war wie meine arrogant
auftrumpfende Tante Muriel. Nur Grandpa Harry hatte freundliche und
aufmunternde Worte für sein »armes, vom Leben gezeichnetes kleines Mädchen«,
wie er sie nannte. Grandpa Harry half auch mir – er [51]  heiterte mich auf, wenn
ich bedrückt war, so wie er auch immer wieder das schwachentwickelte
Selbstbewusstsein meiner Mutter zu stärken versuchte.
    Neben ihren Pflichten als Souffleuse der First Sister Players
arbeitete meine Mom als Sekretärin im Sägewerk und für das Holzlager; als
Eigentümer
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