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Das Moor Des Vergessens

Das Moor Des Vergessens

Titel: Das Moor Des Vergessens
Autoren: Val McDermid
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Präludium
September 2005
    Jede Landschaft hat ihr Geheimnis. Schicht für Schicht ist die Vergangenheit unter der Oberfläche verborgen. Nur selten ist ihr Geheimnis unwiederbringlich verloren, es wartet nur darauf, dass durch menschliche Eingriffe oder die Unbilden des Wetters in der Gegenwart ihr Skelett unter Haut und Fleisch wieder zum Vorschein kommt. Die Vergangenheit bleibt uns immer erhalten, genau wie die Armut.
    Diesen Sommer regnete es in England, als sei das Land in die Tropen versetzt worden. Das Wasser ergoss sich in Sturzbächen, zerstörte wundervolle Gärten und machte aus den Wiesen einen Morast, auf dem das Vieh bis zu den Fesseln im Matsch watete. Die Flüsse traten über die Ufer, ihre plötzlich befreiten Wassermassen suchten sich ihren eigenen Weg und zerstörten alles, was ihnen in die Quere kam. Auf den überschwemmten Straßen der bisher malerischen Dörfer wurden die Autos wie Spielzeug mitgerissen und blieben im Hafen liegen, der vom Chaos zerschmetterter Metallteile blockiert war. Fahrzeuge wurden durch Erdrutsche verschüttet, und die Farmer klagten über ihre verdorbene Ernte. Kein Teil des Landes blieb vom dichten nadelfeinen Regen verschont. Stadt und Land litten gleichermaßen unter der Last des nassen Elements. Im Lake District prasselte es auf Berge und Täler nieder und veränderte sogar unmerklich die Konturen der jahrhundertealten Landschaft. Die Wasserstände der Seen erreichten in diesem Sommer Rekordhöhen, und der einzige erkennbare Vorteil war, dass alles in einem üppigeren Grün als sonst leuchtete, wenn gelegentlich die Sonne schien.
    Über dem Dorf Fellhead an den Ufern des Langmere hatte die ungestüme Macht des Wassers den alten Torfhexen neue Form verliehen. Und als es langsam Herbst wurde, gab die Erde nach und nach eines ihrer wohlgehüteten Geheimnisse preis.
    Aus der Ferne sah es wie ein faltiges Stück Zeltplane mit braunen Flecken vom brackigen Moorwasser aus. Auf den ersten Blick schien es unbedeutend, nur Abfall, der an die Oberfläche gekommen war. Aber wenn man genauer hinsah, war es etwas, das einen schaudern ließ, das weit über die Jahrhunderte zurückreichte und viel dramatischere Veränderungen mit sich bringen sollte als das Wetter.

 
     
     
    Mein geliebter Sohn,
     
    ich hoffe, dass ihr alle, du und deine Kinder, bei guter Gesundheit seid. Ich habe dieser Tage etwas gefunden, das mir Sorgen macht - von der Hand deines Vaters geschrieben. Es mag dich überraschen, dass ich, obwohl wir so vertraut miteinander waren, zu seinen Lebzeiten nichts davon wusste, und ich wünschte mir sehr, es hätte so bleiben können. Du wirst sicher verstehen, dass dies ein Geheimnis bleiben musste, solange dein Vater noch lebte, und er hinterließ mir keine Anweisung, wie ich damit verfahren soll. Da es dich so direkt betrifft und vielleicht noch mehr Schmerz verursachen würde, will ich dir die Entscheidung überlassen, wie damit umgegangen werden soll. Ich übergebe dir die Sache also zu treuen Händen. Du musst so handeln, wie es dir recht erscheint.
     
    Deine dich liebende Mutter

1
    So wie es in diesem Sommer regnete,
    es hätte dir das Herz gebrochen.
    Die Wassermassen zerbarsten
    und schossen über die Blechdächer
    trostloser Bahnhöfe.
    Und ich saß da und wartete auf Züge,
    die Füße in einer trüben Pfütze,
    im Kopf nichts als Leere und Regen,
    und dachte an dich, so viele Meilen entfernt von mir
    unter der griechischen Sonne,
    wo niemals Regen fällt.
     
    Jane Gresham starrte auf das, was sie geschrieben hatte, hinunter und strich es dann mit einem ungeduldigen Federstrich so heftig durch, dass das Papier zerriss. Dieser Scheiß-Jake, dachte sie wütend. Sie war doch erwachsen, kein verliebter Teenager. Und pseudo-lyrische Ergüsse waren etwas, das sie schon seit Jahren hinter sich haben sollte. Sie konnte sich selbst gut genug einschätzen, dass ihr bereits bei ihrem ersten Uniexamen klar gewesen war, eine Dichterin würde sie nie sein. Sie war gut im Studium von Gedichten anderer, im Interpretieren ihrer Werke, den thematischen Zusammenhängen ihrer Verse, und konnte sie in ihrer Komplexität anderen zugänglich machen, denen sie, so hoffte sie jedenfalls, darin einige Schritte voraus war. »Gemeiner Kerl«, sagte sie laut, zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Er verdiente es nicht, dass sie sich seinetwegen den Kopf zerbrach. Und genauso wenig hatte er den ihr so vertrauten Schmerz verdient, der sie bei dem Gedanken an ihn
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