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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person
Autoren: John Irving
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physisch aus dem Rennen um
die Hedda-Rolle zurückgezogen.
    »Und was die Nora angeht…«, sagte Nils zu
Richard Abbott nach nur kurzer Unterbrechung, um die Bemühungen meiner Mutter
um ihre ältere, herrische (jetzt aber ohnmächtige) Schwester zu registrieren.
    Da setzte sich Muriel mit benommenem Gesichtsausdruck und dramatisch
wogendem Busen abrupt auf.
    [45]  »Durch die Nase einatmen, Muriel, durch den Mund ausatmen«,
soufflierte meine Mutter ihrer Schwester.
    »Ich weiß, Mary – ich weiß !«, kam es von
der entnervten Muriel.
    »Aber du machst es genau verkehrt rum – durch den Mund ein und durch
die Nase aus«, sagte meine Mutter.
    »Tja… was soll ich sagen«, setzte Richard Abbott erneut an – und
unterbrach sich erneut. Nicht einmal mir entging, wie er meine Mutter ansah.
    Richard, der die Zehen seines linken Fußes beim Rasenmähen eingebüßt
hatte und dadurch wehrdienstuntauglich geworden war, hatte sich unmittelbar
nach seinem Masterabschluss in Theaterwissenschaft als Lehrer an der Favorite
River Academy beworben. Geboren und aufgewachsen war er im Westen von
Massachusetts. Mit Vermont verband er schöne Kindheitserinnerungen an Skiferien
mit der Familie; die Stelle in First Sister (für die er überqualifiziert war)
hatte ihn aus nostalgischen Gründen gereizt.
    Richard Abbott war nur vier Jahre älter als mein Codeknacker-Vater
auf dem bewussten Foto von 1945 auf dem Schiff Richtung Trinidad. Richard war
fünfundzwanzig, meine Mutter fünfunddreißig, also ganze zehn Jahre älter als
er. Mom muss jüngere Männer gemocht haben; jedenfalls hatte sie mich lieber
gemocht, als ich jünger war.
    »Und spielen Sie, Miss –«, setzte Richard erneut an, aber meine
Mutter wusste, dass er sie meinte, und fiel ihm ins Wort.
    »Nein, ich bin nur die Souffleuse«, stellte sie klar. »Ich spiele
nicht.«
    »Ach, aber Mary –«, fing Grandpa Harry wieder an.
    [46]  » Nein, Daddy«, schnitt meine Mutter ihm
das Wort ab. »Du und Muriel, ihr seid die Schauspielerinnen «,
sagte sie, mit deutlicher Betonung auf den zwei letzten Silben. »Ich bin und
bleibe Souffleuse.«
    »Und zu Nora?«, fragte Nils Borkman Richard. »Sie wollten doch etwas
gesagt haben –«
    »Nora geht es mehr um Freiheit als Hedda«, sagte Richard Abbott
selbstsicher. »Sie hat nicht nur den Mut, ihren Mann zu verlassen, sondern
verlässt sogar ihre Kinder! In ihr wie in Hedda steckt ein so unbändiger Freiheitsdrang – ich meine, Sie sollten die
Schauspielerin entscheiden lassen, welche der beiden Frauen sie spielen will.
Schließlich steht und fällt das Stück – egal, ob Hedda oder Nora – mit der Schauspielerin, die sie beide
spielt.«
    Während des Redens ließ Richard Abbott seinen Blick über unsere
Laienschauspieltruppe schweifen in der Hoffnung auf mögliche Heddas oder Noras,
doch immer wieder wanderte dieser Blick auch zu meiner Mutter, die, wie ich
wusste, hartnäckig und ein für alle Mal nur die Souffleuse war. Auch Richard
würde keine Hedda oder Nora aus meiner texttreuen Mutter machen.
    »Na dann…«, sagte Grandpa Harry, den, ungeachtet seines Alters,
beide Rollen, die Nora wie die Hedda, offenbar erneut reizten.
    »Nein, Harry – nicht du schon wieder!«, beschied Nils, wieder ganz
der alte Tyrann. »Der junge Mann hat recht. Die beiden Frauen haben etwas
Anarchisches – sowohl einen unbändigen Freiheitsdrang als auch sexuelle Stärke.
Wir brauchen eine jüngere, sexuell aktivierendere Frau als dich.«
    [47]  Richard Abbott betrachtete meinen Großvater mit zunehmendem
Respekt; er erkannte, dass sich Grandpa Harry als ernstzunehmender
Frauendarsteller in den First Sister Players etabliert hatte – wenn schon nicht
als sexuell aktivierende Frau.
    »Wollen Sie es sich nicht doch überlegen, Muriel?«, fragte Borkman
meine überheblich klingende Tante.
    »Ja, bitte!«, setzte Richard Abbott nach, der über ein Jahrzehnt
jünger war als sie. »Sie besitzen eine unbestreitbare sexuelle Präsenz –«, hob
er an.
    Leider Gottes kam der junge Mr. Abbott nur bis zum Wort Präsenz (mit sexuell modifiziert), bevor Muriel abermals in Ohnmacht fiel.
    »Das sieht mir ganz nach einem ›Nein‹ aus, wenn Sie mich fragen«,
erklärte meine Mutter dem strahlenden Jungtalent.
    Bei mir machten sich schon erste Anzeichen einer gewissen
Schwärmerei für Richard Abbott bemerkbar, aber da war ich Miss Frost noch nicht
begegnet.
    Zwei Jahre später, als ich fünfzehnjährig als blutiger Neuling
in meiner ersten
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